war der Pazifik mein.
Vor tausend und tausend mal tausend Jahren
schwamm ich schon mit dem Meeresgetier.
Vor tausend und tausend mal tausend Jahren,
ehe die Menschen den Hochmut gebaren,
gehörten die Inseln mir.
Tausend und tausend mal tausend Gelege
vergrub ich wie eine geheime Idee.
Tausend und tausend mal tausend Gelege
schlüpften und fanden tausend Wege
zurück in die rettende See.
Tausend und tausend Mal bin ich gestorben
durch des Menschen mordende Hand.
Tausend und tausend Mal bin ich gestorben,
ich wurde gestohlen, ich wurde verdorben,
und einsam lag er, der Strand.
Tausend Mal wurden Anker gelichtet,
und ich war an Bord, in dunklem Versteck.
Tausend Mal wurden Anker gelichtet,
und ich lag, lebendig zu Stapeln geschichtet,
zu Tausenden unter Deck.
Die Menschen denken, sie können vernichten,
die Menschen glauben, sie können richten,
aber sie irren sich sehr.
In tausend und tausend mal tausend Jahren,
wenn schon längst keine Schiffe mehr fahren,
dann spiele ich noch im Meer.
Ayudame!
Hilf mir!
Sie beugten sich über das kleine Becken, schöpften mit den Händen Wasser und tranken und tranken und tranken. Sie betranken sich an dem klaren Wasser, tauchten ihre Gesichter hinein, bespritzten einander damit und lachten wie kleine Kinder. Und so viel sie auch davon tranken, es floss ständig neues Wasser aus dem Felsspalt. Es war wie ein Wunder.
Irgendwo am Grund des natürlichen Steinbeckens versickerte das Wasser wohl in der Erde, und jetzt sah Marit auch, wie viel grüner es im Umkreis der Quelle war, wie viel übermütiger und höher die Pflanzen sprossen. Sie sah, woran es lag, dass sie hier plötzlich Spuren erkennen konnte: Die Erde war nicht länger trocken und krümelig. Sie war durchdrungen von Feuchtigkeit.
Schließlich ließen José und sie sich auf jenen feuchten Boden fallen und lagen einfach da und sahen in die Baumwipfel hinauf.
»Wir werden überleben«, sagte José. »Auch nach der Regenzeit. Die Quelle hat genug Wasser, sie versiegt nicht so schnell.«
»Ja«, sagte Marit. »Wir werden überleben.«
Sie setzte sich auf und malte Linien in die feuchte Erde. Ein Schiff.
»Nach der Regenzeit …«, murmelte sie. »Was glaubst du, wann kommt das nächste Schiff vorbei, das uns mitnehmen kann?«
»Irgendwann«, murmelte José. »Sie … kommen nicht so nahe an die Insel heran … Vielleicht …«
»Vielleicht kommt gar kein Schiff«, sagte Marit. »Nie. So ist es doch, nicht wahr?«
»Ach Unsinn«, knurrte José. Und dann hieb er mit der Faust in den Schlamm, dass es spritzte. »Ist das nicht irre?«, sagte er. »Da segle ich los, um einen Schatz zu finden oder ein Nest von Spionen. Ich segle von Baltra los, einer Insel, auf der es tonnenweise Wasser in Flaschen gibt, und wozu das alles? Um Wasser zu finden!«
»Hättest du lieber eine Kiste voll Gold und Edelsteinen gefunden?«, fragte Marit sanft. »Und wärst jämmerlich mit deiner Kiste im Arm verdurstet?«
José schnaubte und stand auf. »Wenn wir eine Weile hierbleiben«, sagte er, »sollten wir uns einen Unterschlupf suchen. Wir ziehen in die Höhlen. Fürs Erste, allerliebste Schwester«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu, »muss das reichen.«
»Fürs Erste reicht es, allerliebster Bruder«, sagte Marit.
José wanderte allein zum Strand zurück, um Kurts Oktopusvorrat zu holen.
Marit brach ein paar Zweige ab, band sie mit einer Kletterpflanze zu einer Art Besen zusammen und begann die größere Höhle – die mit der Bank – auszufegen. Dabei fand sie in den dunklen Schatten ganz hinten etwas Wunderbares: einen Topf und ein paar Glasscherben. Die Scherben konnte man womöglich als Messer benutzen. Der Topf war schwarz und dreckig und uralt, aber dicht. Marit säuberte ihn und holte Wasser, um das Becken in der Bank aufzufüllen. Sie besorgte Feuerholz und errichtete ein Lager aus Ästen und Blättern, auf dem sie weicher schlafen würden als auf dem bloßen Steinboden. Sie pflückte noch mehr Guaven. Ihre Hände arbeiteten rasch und sie summte dabei. Es war wie ein Spiel, das sie früher im Hof gespielt hatten, vor unendlich langer Zeit: damals, als selbst Richard noch klein gewesen war. Der Schuppen war ihr Haus gewesen und sie hatten Tische aus Holzscheiten errichtet und Betten aus alten Küchentüchern. Sie hatten Löwenzahnsuppe gekocht und Pudding aus Erde …
Doch der Holzschuppen war zu Asche verbrannt, mit all seinen Spielen und den schlurfenden Geistern darin.
Dies hier war Ernst. Marit lief die ganze Umgebung ab und fand zwei weitere Orangenbäume. Als sie mit ihrer Ausbeute zurückkam, saß ein rot-schwarzer Leguan auf der Steinbank und trank Wasser aus der Vertiefung darin.
»Uwe?«, fragte Marit ungläubig.
Uwe sah auf und schien zu nicken. Er fand es offenbar sehr bequem, dass er einmal kein Salz aus dem Meerwasser zu filtern brauchte. Hinten in der Höhle, wo die Schatten am kühlsten waren, entdeckte Marit einen Pinguin, der damit beschäftigt war, mit seinem Schnabel eine Guave zu bearbeiten. »Ich glaube nicht, dass Pinguine Guaven essen«, sagte Marit.
»Dann müssen wir ihm wohl einen Oktopus abgeben«, sagte José hinter ihr. Sie fuhr herum. Neben José saß Kurt, erschöpft von dem langen Fußmarsch. »Er wollte unbedingt mitkommen«, sagte José und seufzte. »Dein ganzer kleiner Zoo hat sich wieder eingefunden, was? Alle außer Chispa und Eduardo. Aber … was ist das?«
Oskar kam aus den Schatten gewatschelt, und neben ihm watschelte noch jemand: ein Vogel mit sehr großen blauen Füßen. Er musterte Marit, musterte José und verschlang dann einen Tintenfisch.
»Ein Tölpel!«, sagte Marit und ging in die Knie. »Ein Blaufußtölpel! Das waren Julias Lieblingstiere aus dem Buch von Mamas Professor! Ich dachte nicht, dass ihre Füße so blau sind.«
Der Tölpel betrachtete seine Füße ebenfalls und schien zufrieden mit ihrer Bläue.
»Nenn ihn Loco«, sagte José. »Der Verrückte. Er muss verrückt sein, wenn er freiwillig bei so einem wahnsinnigen Zoo einzieht.«
Als die Dunkelheit kam, loderte das Feuer hell in der Mitte der Höhle und der Geruch von bratendem Tintenfisch füllte sie aus. Es roch ein wenig nach verbranntem Gummi, aber Marit schien es an diesem Abend der schönste Duft der Welt.
Sie kochten in dem Topf Tee aus Blättern, von denen José behauptete, sie seien höchstwahrscheinlich ungiftig, und saßen auf der Steinbank und fütterten Carmen mit Orangenstückchen. Der Blaufußtölpel saß so nah am Feuer, wie es irgend ging, und schien im Schein der Flammen seine eigenen Füße zu bewundern.
»Ist das nicht seltsam?«, sagte Marit, als sie später auf dem notdürftigen Lager aus Zweigen und Blättern lagen, den schlafenden Zoo um sich versammelt. »Es ist, als wären wir ein altes Ehepaar mit einer Menge merkwürdiger Kinder.«
Da setzte José sich auf.
»Nein!«, sagte er mit unerwarteter Heftigkeit.
»Nein?«
»Eins musst du wissen«, fuhr José fort, etwas weniger heftig. »Wir haben alles geteilt auf unserer Reise und wir werden alles teilen auf dieser Insel. Aber du wirst immer meine Schwester sein. Nichts anderes.«