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Da trat das Mädchen ängstlich auf ihn zu ... »Aber, Herr Rudolf«, sagte sie, »Sie schicken ja den Wagen fort? Ich muß doch heute abend wieder bei meiner Dienstherrin sein! Sie müßte mich ja sonst für eine gemeine Diebin halten! Was ich auf dem Leibe trage, gehört doch ihr, und Geld für Wohnung und Kost bin ich ihr außerdem schuldig.« »Seien Sie ganz ohne Sorge, Kind«, erwiderte Rudolf, »und lassen Sie sich sagen, daß Sie der garstigen Frau in dem Wirtshause keinen Sou mehr schuldig sind, denn ich habe – seien Sie mir aber deshalb ja nicht etwa böse – alles für Sie bezahlt, was die Frau als Ihre Schuld von mir gefordert hat. Meine liebe Frau Georges wird Ihnen andere Kleider geben, solche, wie sie sich für Sie schicken, und die Ihnen auch passen werden ... Sie sehen, als Tante entpuppt sie sich ja schon!«

Noch immer war es dem Mädchen, als ob sie träumte. Bald sah sie die Pächterin, bald Rudolf an und konnte gar nicht glauben, was sie hörte ... »Herr Rudolf,« bat sie, »seien Sie nicht unbarmherzig! Sie täuschen mich doch nicht?« »Aber, Kind«, versetzte Rudolf mit einer Stimme noch immer liebevoll, aber doch auch wieder so ernst und würdevoll, wie sie ihn noch nie gehört hatte ... »wenn es nach Ihrem Herzen ist, so können Sie hinfort hier bei Frau Georges das ruhige Stillleben führen, dessen Schilde rung Sie noch eben in so hohem Maße entzückte. Wenn die gute Frau Georges auch nicht wirklich Ihre Tante ist, so wird sie doch, wenn sie mit Ihnen bekannter ist, innigem Anteil an Ihrem Schicksal nehmen, und in den Augen der Leute hier sollen Sie nicht anders angesehen werden als die Nichte der Frau. Wenn es auch eine kleine Unwahrheit ist, die wir da begehen, so wird sie doch beitragen, Ihnen Ihre Stellung hier nicht eben unangenehmer zu machen.«

Marienblume preßte die Hände über die Brust. Dankbarkeit, Freude, Staunen, Hochachtung kamen auf ihrem schönen Antlitz zum Ausdruck, wieder traten ihr Tränen in die Augen, und voll innigen Gefühls sagte sie: »Herr Rudolf, Sie müssen vom Himmel gesandt sein, einem armen, unglücklichen Wesen, das Sie gar nicht kennen, das Sie aus Not und Schande befreien, des Guten soviel zu erweisen.« – Rudolf erwiderte mit tief melancholischem Lächeln und einem Ausdruck unsäglicher Güte auf dem Gesicht: »Du armes Kind! Auch ich habe, trotzdem ich noch jung bin, des Unglücks viel erlitten. Das mag Ihnen mein Mitgefühl mit Unglücklichen erklären. Marienblümchen, oder wie ich Sie hinfort genannt wissen möchte, Marie, gehen Sie nun mit Frau Georges ins Haus hinein! Ehe ich zurück nach Paris reise, werde ich noch einmal mit Ihnen sprechen. Ich werde mein schönstes Glück mit mir nehmen, wenn ich höre, daß Sie sich hier wohl und glücklich fühlen.«

Marie gab keine Antwort, aber sie neigte das Haupt zu ihm herab, preßte einen dankbaren Kuß auf seine Hände und ging mit Frau Georges ins Haus hinein. Frau Georges betrachtete sie mit herzlicher Teilnahme.

Elftes Kapitel.

Murph und Rudolf.

Im Hofe, wohin sich Rudolf nun begab, traf er den Hünen, der ihn tags vorher in der Verkleidung eines Kohlenträgers bis zur Kaschemme begleitet und dort von Toms und Sarahs Ankunft unterrichtet hatte. Der Mann hieß Murph und mochte in seinem fünfzigsten Lebensjahre stehen. Er hatte eine Glatze, nur an den beiden Schläfen zeigten sich noch ein paar blonde Haarbüschel, mit silbergrauen Härchen vermischt. Sein breites, ziemlich rotes Gesicht war bis auf den kurzen Backenbart von fast rötlicher Farbe glatt rasiert. Er war ziemlich beleibt, aber trotz Alter und Korpulenz noch recht rüstig und gewandt. Aus dem etwas phlegmatischen Gesicht ließ sich Wohlwollen und Entschlossenheit lesen. Murph war Engländer, als solcher aber ein echter Gentleman.

Als Rudolf in den Hof trat, schob Murph eben in die Tasche eines kleinen Reisewagens ein paar blank geputzte Pistolen. – »Wem willst du denn mit den Dingern zu Leibe?« fragte Rudolf. – »Ueberlassen Sie das mir, gnädiger Herr«, versetzte Murph grillig, vom Kutschtritt steigend; »setzen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung; ich tue es mit den meinigen.« – »Zu wann hast du die Pferde bestellt?« – »Für den Abend, wie Sie befahlen.« – »Heut morgen bist du angekommen?« – »Um acht Uhr. Frau Georges hatte genügend Zeit zu den nötigen Vorbereitungen.« – »Du bist schlechter Laune? Hast du Ursuche, dich über mich zu beklagen?« – »Ich dächte, übergenug Ursache, gnädiger Herr. Es war bis jetzt kein Kinderspiel, und der Tag wird nicht ausbleiben, an welchem Ihnen ernste Gefahr droht, an welchem Ihr Leben bedroht wird ... Müssen Sie es denn durchaus aufs Spiel setzen? Gestern abend erst wieder, um diesen Rotarm auszukundschaften, – dem ich den Teufel auf den Hals wünsche – in dieser abscheulichen Gasse von Alt-Paris, hätte wenig gefehlt, so ...« –

»Oho! Du zweifelst doch nicht etwa an meinem Mute und an meiner Leibeskraft?« – »An keinem von beiden, haben Sie doch wenigstens an hundertmal bewiesen, daß davon keine Rede sein kann! Crabb in Ramsgate hat Ihnen ja das Boxen aus dem FF beigebracht, Lacour in Paris das Stock-, und Bertrand, der berühmteste Fechtlehrer, das Hiebfechten, Lacour der Kuriosität halber auch noch das Rotwelsch oder die Gaunersprache. Sie waren ja in allem bald so weit, daß Sie Ihre Lehrmeister aus dem Felde schlugen. Sie haben Muskeln von Stahl, treffen die Schwalbe im Fluge ... das ist alles richtig ...«

Rudolf hatte mit Behagen zugehört, wie Murph sich über ihn und seine Eigenschaften ausließ, und fragte jetzt mit Lächeln: »Na, also! Weshalb bangt es dir um mich?«

– »Ich wittere einen törichten Streich von Ihnen, Herr.«

– »Ei, was du sagst! Na, heraus mit der Sprache, und nicht geniert!« – »Gnädiger Herr, Ihr neuer Schützling..«

– »Was hast du wider ihn? Kannst du mir das bißchen Freude nicht gönnen, ein unglückliches Wesen an diesen ruhigen Ort hier zu bringen, wo sie unter Obhut der wackern Frau Georges von allem Herzeleid genesen wird?«

– »Nun, was soll ich reden? Sie tun doch, was Ihnen beliebt!« – Ich tue, was mir recht dünkt,« versetzte Rudolf mit deutlichen Unzeichen von Ungeduld; »und möchte mir ausbitten, hierüber kein Wort weiter zu verlieren!« – »Ich wüßte nicht, daß Sie jemals nötig gehabt hätten, mir den Mund zu verbieten, gnädiger Herr«, versetzte Murph mit Selbstbewußtsein, »aber hoffentlich wirds auch nie notwendig werden, daß Sie mir befehlen müssen, den Mund aufzutun.« – »Murph!« rief Rudolf mit steigendem Unwillen. – »Mein gnädiger Herr!« – »Ich vertrage, wie du weißt, keinen Widerspruch, Murph!« – »Und doch kommt es mir zu, gnädiger Herr, Widerspruch zu erheben!«

– »Wenn ich dich meines Vertrauens würdigte, Murph«, erwiderte Rudolf mit einem Stolz im Gesicht, der sich unmöglich in Worte kleiden läßt, »so geschah es nur unter der Bedingung, daß du niemals vergäßest, in welcher Stellung du dich bei mir befindest!«

»Ich gehe in mein fünfzigstes Jahr, Herr«, versetzte Murph, »und bin immer Gentleman gewesen. So dürfen Sie denn doch nicht mit mir sprechen!« – »Still!« – »Gnädiger Herr! Einen braven Menschen zwingen, an Dienste zu erinnern, die er geleistet hat, verträgt sich nicht mit Würde.« – »Dienste? Dienste, die du mir geleistet? Bezahle ich dich nicht höchst anständig? Habe ich jemals etwas umsonst verlangt?« Rudolf hatte mit seinen harten Worten nicht die Demütigung verbinden wollen, die Murph zum Lohndiener herabwürdigte; leider faßte aber dieser die Worte nicht anders auf. Er wurde rot vor Zorn, preßte mit schmerzlichem Unwillen beide Fäuste gegen die Stirn, heftete die Augen auf Rudolf, dessen edles Antlitz von Hochmut verunstaltet wurde, unterdrückte mit aller Gewalt einen tiefen Seufzer und blickte Rudolf mit einem Ausdruck von innigem Mitleid an ... »Gnädiger Herr«, sagte er mit bewegter Stimme, »kommen Sie wieder zu sich! Um solche Worte gegen mich zu äußern, müssen Sie entweder schrecklich aufgeregt oder Ihres vollen Verstandes nicht mächtig gewesen sein.«