Hier unten wurde es so dunkel, daß niemand den dort gähnenden Eingang zu den fast immer durch eine Falltür geschlossenen Keller hätte sehen können. Dicht bei ihm stand der Tisch, an den sich der Räuber setzte, und zwar so, daß er das dunkle tiefe Loch mit dem Rücken vor Rudolfs Augen vollständig verdeckte. Rudolf blickte, um die Unruhe, die ihn quälte, zu verbergen, zum Fenster hinaus. Er hatte Bange, daß Murph doch die wenigen, zudem undeutlich geschriebenen Worte auf dem zusammengeknüllten Papiere nicht völlig verstanden haben möchte, und daß ihm in letzter Stunde noch die Gelegenheit, Kenntnis von den Geheimnissen zu erhalten, die ihn so lebhaft beschäftigten, entgehen möchte. Daß er es mit einem hinterlistigen Mörder zu tun hatte, der vor keiner Gewalttat zurückschreckte, und dessen Kraft und Gewandtheit der seinigen kaum nachstehen mochten, darüber war er sich keine Sekunde im Zweifel.
Anderseits waren ihm starke Aufregungen derart zum Bedürfnis geworden, daß er in den Hindernissen, die sich seinem Plane gegenüberstellten, einen gewissen prickelnden Reiz fand. Um aber keine Ursache zu Argwohn zu geben, nahm er neben Bakel an dem Tische Platz und bestellte sich ebenfalls einen Becher Schnaps. Rotarm maß ihn, nachdem er abermals ein paar leise Worte mit Bakel gewechselt, mit neugierigen, höhnischen, wohl auch mißtrauischen Blicken.
»Was meinen Sie, wenn wir, falls meine Frau mit dem Bescheide kommt, daß die Leute, denen wir einen Besuch zugedacht haben, zu Hause seien, schon um acht Uhr anträten?« fragte Bakel mit einem lauernden Blicke. – »Das wäre zwei Stunden zu früh«, erwiderte Rudolf, »ich kenne die Leute und sage Ihnen, daß wir vor zehn Uhr uns nicht zu ihnen begeben dürfen.« – »Sie scheinen mir ein recht arger Dickschädel zu sein, junger Mann«, sagte Bakel, »aber ich muß mich schon in alles fügen, was Sie sich vornehmen. Drum sei es, wie Sie meinen. Wir brechen also erst um zehn Uhr auf.« –
Rotarm sprang auf. Ein ähnlicher Schnalzlaut, wie er schon einmal erklungen war, als Bakel kam, hatte seine Aufmerksamkeit geweckt ... »Die Eule kommt wieder«, sagte er, und gleich darauf stand sie auch auf der Schwelle. – »Es stimmt, Männchen«, sagte sie, auf den Tisch zutretend. Sie war pitschnaß vom Regen und setzte sich zwischen Bakel und Rudolf. – »Ja?« fragte Bakel. – »Ja«, wiederholte sie, »der junge Mensch hat die Wahrheit gesagt.« – »Na, sehen Sie?« fiel Rudolf ihr ins Wort. – »Unterbrechen Sie die Frau nicht«, fuhr der Räuber Rudolf an. »Finette, erzähle weiter!« –
»Ich ließ den Kleinen, als ich die Nummer siebzehn erreicht hatte, Schmiere stehen. Es war noch hell. Als ich klingelte, machte mir ein großer, dicker Portier auf, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit schläfrigem, gutmütigem Gesicht, rotem Backenbarte und einer Glatze. In der Haube, die ich mir vorher aufgesetzt hatte, sah ich wie eine Frau aus der Nachbarschaft. Kaum hatte der Portier sich gezeigt, so fing ich an zu jammern, mir sei mein Papagei verflogen. Ich hätte ihn von der Rue Marboeuf, wo ich wohnte, von Garten zu Garten verfolgt. Jetzt wäre er hierher geflogen. Ich bat, mir Zutritt in den Garten zu gestatten, was mir auch erlaubt wurde.«
Bakels Gesicht strahlte vor Freude, als er auf die Eule hinschaute, und rief mit Stolz: »Ja, das ist noch eine Frau! Das ist noch eine Frau!« – Rudolf fügte bei, um beim Räuber eine bessere Meinung von sich zu wecken: »Ja, es war ein recht, recht kluger Schachzug!« – Die Eule erzählte weiter: »Der Portier erlaubte mir also, in den Garten zu gehen. Ich guckte mich dort überall um, damit mir nichts entginge. An den Innenmauern sind überall Geländer, richtige Treppen. Links an der Ecke steht eine Fichte, die ganz gut als Leiter dienen kann. Im Erdgeschoß hat das Haus sechs Fenster und vier Kellerlöcher, aber ohne Kellerhälse. Obere Stockwerke gibt es nicht. Vor den Fenstern sind Läden. Die Eingangstür ist eine Glastür mit zwei Vorsetzern.« – »Stimmt alles genau«, bemerkte Rudolf. – »Links im Hofe«, fuhr die Einäugige fort, »sieht ein Ziehbrunnen. Hier ist die Mauer ohne Geländer. Das Brunnenseil ließe sich aber, falls der Rückzug zur Tür abgeschnitten würde, recht wohl als Ersatz für das fehlende Geländer brauchen.«
»Du bist doch auch im Hause drin gewesen?« fragte Bakel mit Stolz. – »Allerdings«, versetzte die Einäugige, »da ich meinen Papagei nicht fand, stellte ich mich erschöpft und bat den Portier, mich ein paar Augenblicke auf der Schwelle ausruhen zu dürfen. Der Mann erlaubte es mir nicht bloß, sondern brachte mir als Labetrunk ein Glas Wein mit Wasser. Ueberall liegen Teppiche, so daß man weder Tritte noch eine eingedrückte Scheibe klirren hören würde. Rechts und links befinden sich Türen mit gewöhnlichen Schlössern, die kinderleicht aufgehen. Im Hintergrunde befindet sich eine Tür, stark und verschlossen. In dem Hause riecht es förmlich nach Geld. Ich hatte mein Stück Wachs in der Tasche. Um ein paar Augenblicke den Portier zu entfernen, klagte ich über starke Schwäche und bat den Mann, mir ein Stück Zucker zu geben. Er ging in die Nebenstube, und bald darauf hörte ich Silberzeug klirren. Vergiß nicht, Mann, daß in diesem Zimmer wahrscheinlich Silber über Silber liegt. Ich tat, als wenn mich ein starker Husten befiele, und näherte mich langsam der Tür, mit meinem Stück Wachs in der Hand, das ich nun auf das Schloß drückte. Da hast du den Abdruck davon, Männchen!« Die Eule gab dem Räuber das Stück Wachs ... »Das ist doch die Tür zu dem Gelde?« fragte die Eule. – Rudolf nickte. – »Aber es ist nicht alles Geld da«, fügte die Eule mit funkelndem Auge; »als ich ans Fenster hintrat, um noch einmal zu sehen, ob sich mein Papagei angefunden, sah ich in einem Zimmer links von der Tür auf einem Schreibsekretär etwa ein Dutzend Geldsäcke stehen.«
»Wo ist der lahme Junge?« fragte Bakel mit einem Mal. – »Er steht noch immer Schmiere vor der Gartentür, zwei Schritte davon entfernt, in einem Loche. Er sieht im Finstern wie die Katzen. Ein anderer Zugang zum Hause ist nicht vorhanden. Kommen wir hin, so werden wir von ihm erfahren, ob vor uns jemand hineingegangen ist oder nicht.« – »Schön! Hast deine Sache gut gemacht«, sagte Bakel, dem häßlichen Weibe einen Kuß gebend.
Kaum hatten die Worte den Weg über seine Lippen genommen, als er wie ein Tiger über Rudolf herstürzte, so unversehens, daß Rudolf den Angriff nicht zu parieren vermochte, ihn an der Kehle packte und in das hinter dem Tische gähnende Kellerloch stürzte. Die Eule schrie vor Entsetzen laut auf. Als das Geräusch von Rudolfs Sturz verhallt war, stieg Bakel, wohlbekannt in dem Hause, langsam in den Keller hinunter und lauschte. Zuerst war nichts zu hören; kurz darauf kreischte in der Kellertiefe eine verrostete Tür. Dann herrschte wieder völlige Stille, gepaart mit völliger Finsternis. Die Eule langte aus ihrem Beutel ein Streichholz und steckte ein Lichtchen an, dessen matter Schein sich in der düstern Stube verbreitete ... Da erschien des Räubers gräßlich entstelltes Gesicht wieder im Rahmen des Kellerhalses.
Vor die Kellertür eine eiserne Stange schiebend, rief er: »Nun geschwind nach der Allee des Veuves! Geschwind! Denn in einer Stunde möchte es zu spät sein.«
Fünftes Kapitel.
Im tiefen Keller.
Rudolf war durch den Sturz in die Tiefe ohnmächtig geworden und bewegungslos an der Kellertreppe liegen geblieben. Der Räuber hatte ihn bis zum zweiten, noch tieferen Kellerloche geschleppt, hinter ihm die dicke, mit Eisen beschlagene Tür zugeschlagen und sich darauf wieder zu der Einäugigen begeben, um mit ihr über den Einbruch, vielleicht gar Mord, in der Allee des Veuves zu beraten.
Eine Stunde war reichlich verstrichen, als Rudolf wieder langsam das Bewußtsein wiedergewann. Um ihn herum lagerte tiefe Finsternis. Als er die Arme ausstreckte, um sich einigermaßen zu orientieren, traf er auf Steine. Zu seinen Füßen griff er in etwas Kaltes, das nichts anderes war als eine Wasserpfütze. Nach allerhand Mühen glückte es ihm, sich auf die oberste Stufe hinauf zu arbeiten. Die Betäubung wich langsam von ihm, er versuchte, sich ein paarmal zu bewegen, dann lauschte er, hörte aber weiter nichts als ein fortwährendes gleichmäßiges Rauschen, dessen Ursache er alsbald erriet: es rührte von dem in den Keller eindringenden Wasser her. Die Seine hatte Hochwasserstand, und der Keller, worin er sich befand, lag auf Ueberflutungsterrain.