Diese unmittelbare Lebensgefahr gab Rudolf all seine Stärke wieder. Blitzschnell war er die ganze Treppe hinauf gerutscht. Oben stieß er gegen eine Tür, gegen die er sich mit aller Wucht seines Körpers stemmte, aber sie rührte sich nicht in ihren Angeln. In dieser verzweifelten Situation wanderten seine Gedanken zu Murph ... »Ist er nicht scharf auf seiner Hut,« dachte er schaudernd, »dann fällt er diesem Unhold sicher gleich mir zum Opfer, und niemand anders als ich ist davon Ursache ... Armer Murph!« – In der Hoffnung, in dem Keller einen Gegenstand zu finden, der sich als Hebel benutzen lassen möchte, stieg er die Kellerstufen wieder hinunter. Auf der vorletzten Stufe stieß er mit dem Fuße an ein paar weiche Körper: Ratten! Sie waren vor dem Wasser aus ihren Löchern gewichen. Bis an die Kniee im Wasser stehend, suchte er in dem Keller überall herum, ohne daß es ihm gelang, etwas zu finden. Am Leben verzweifelnd, stieg er langsam die Treppe wieder hinauf. Er schrie aus Leibeskräften, in der Hoffnung, die Gäste oben möchten ihn hören; aber nichts, nichts, als das schwache, ununterbrochene Rauschen des ständig steigenden Wassers drang zu seinen Ohren. Nur fünf Stufen waren noch frei von Wasser. Richtete sich Rudolf an der Tür in die Höhe, stieß er mit der Stirn an die Decke. Wann ihn der Tod ereilte, ein langsamer, schrecklicher Tod, das ließ sich fast auf die Sekunde berechnen. Und immer höher hinauf flüchteten sich die Ratten, auf der Suche nach einem Ausgang, den sie gleich ihm nicht finden konnten. An seinen Kleidern kletterten sie in die Höhe. Wenn er sie von sich streifen wollte, bissen sie ihn in die Hände. Beim Sturz in den Keller war seine Bluse aufgerissen worden, an den nackten Stellen seiner Brust suchten die ekelhaften Tiere Zuflucht, und so oft er sie von sich schleuderte, ebenso oft kamen sie auch wieder an ihn heran.
Immer und immer wieder schrie er nach Hilfe, aber niemand hörte ihn, und was ihn jetzt mit unsagbarem Entsetzen erfüllte, war die Gewißheit, daß er bald nicht mehr die Kraft haben würde, zu schreien, denn schon reichte ihm das Wasser bis an die Brust. Wie lange würde es noch dauern, dann hätte es eine Höhe gewonnen, daß es ihm bis an den Mund reichte!
In diesem letzten Augenblicke, vor der Nähe eines gräßlichen Todes, gedachte er noch einmal all jener Umstände, die ihn bewogen hatten, sich auf ein erhabenes Unternehmen einzulassen, das seine beiden Leidenschaften: die Liebe zum Guten und den Haß gegen alles Schlechte, befriedigte, ihm aber auch Buße für die eigenen Vergehen sein sollte. Aber er fiel nicht darob in Verzweiflung, sondern ertrug sein grauses Geschick mit Demut und Unterwürfigkeit, wenn er sich auch, so lange noch der Lebensinstinkt in ihm arbeitete, sich mit aller Kraft seines Geistes gegen den Tod wehrte. Es wurde ihm zu mute, als drehe er sich um sich selbst: Schwindel befiel ihn und riß seine Gedanken in seine raschen, schrecklichen Wirbel hinein; das Wasser brauste ihm in den Ohren, und eben wollte der letzte Schimmer von Verstand in ihm verlöschen, als sich neben der Kellertür eilige Schritte und Stimmengeräusch vernehmen ließen ... Er fand die Kraft nicht mehr, sich aufrecht zu halten, sondern glitt tiefer und tiefer in das noch immer steigende Wasser hinunter ... Da wurde die Kellertür aufgesprengt. Das Wasser schoß mit gewaltigem Druck in die entstandene Oeffnung hinein, und Schuri packte Rudolf an beiden Armen, um ihn im letzten Augenblick vorm Tode, des Ertrinkens zu retten.
Sechstes Kapitel.
Schiris Tat und Erzählung
In das vor dem Einbruchsversuche Bakels von der einäugigen Eule besichtigte Haus in der Allee des Veuves durch Schuri gebracht, ruht Rudolf in einem wohnlich eingerichteten Stübchen. Im Kamine flammt ein helles Feuer, auf einer Kommode steht eine Lampe, die ebenfalls eine lebhafte Helle verbreitet; der Raum, wo das von dicken Damastvorhängen umgebene Bett steht, ist dunkel. Ein mittelgroßer Neger mit weißem Wollhaar, im blauen Frack mit orangegrünem Bande im Knopfloche, zählt nach der goldnen Sekundenuhr, die er in der Hand hält, die Pulsschläge Rudolfs. Am Fuße des Bettes, in schmutzigen Lumpen, steht mit übereinandergeschlagenen Armen, ohne ein Glied zu rühren, Schuri. Um den Kopf herum hängt ihm naß und verworren das flachsfarbige Haar. Von dem langen roten Barte tropft Wasser hernieder. Auf dem häßlichen Gesicht liegt ein unbeschreiblicher Ausdruck von Mitleid und Teilnahme. Der schwarze Arzt hat dem von Ohnmacht umfangenen Rudolf einen Löffel Medizin gereicht. Rudolf regt sich. – »Nun, die Starre läßt nach,« spricht der Arzt, »durch den Aderlaß ists ihm leichter geworden, bald wird alles vorüber sein.« – »Also gerettet!« ruft Schuri, außer stande, seine freudige Erregung zu meistern; »bravo! bravo!« – Von dem lauten Rufe Schuris geweckt, richtet Rudolf sich auf, blickt sich scheu um, sammelt seine Gedanken und ruft: »Murph? Wo ist Murph?« – Ehrerbietig antwortet der Neger-Arzt: »Wollen gnädige Hoheit sich beruhigen! Noch dürfen wir hoffen.« – »Murph ist verwundet?« fragt Rudolf. – »Allerdings, Hoheit!« versetzt der schwarze Arzt. – »Wo ist Murph? Ich will ihn sehen«, ruft Rudolf. – »Es wäre gefährlich, ihn jetzt irgendwie zu beunruhigen. Er schläft.« – »Ihr hintergeht mich, Doktor! Murph ist tot, ist ermordet, und ich – ich bin die Ursache davon!« jammert Rudolf, die Hände zum Himmel aufhebend. – »Bei meiner Ehre, Hoheit, Murph lebt, wenngleich er sehr schwer verletzt wurde. Ich habe alle Hoffnung«, sagt der schwarze Arzt, »ihn am Leben zu erhalten.« – »Und doch fürchte ich, daß Ihr mir die Wahrheit verheimlicht«, versetzt Rudolf, sich wieder in die Höhe richtend, »laßt mich unverweilt zu ihm tragen. Einem Freunde ins Auge zu schauen, ist immer wohltuend.« – »Ich versichere noch einmal«, erwidert der Negerarzt, »daß Herr Murph bald genesen wird, sofern nicht Zufälle eintreten, die sich zurzeit nicht abwägen lassen.« – »Lieber David«, ruft Rudolf, »ists wirklich so?« – »Was ich Ihnen sage«, versetzte der schwarze Arzt, »ist die lautere Wahrheit. Hoheit wissen doch, daß noch nie eine Lüge über meine Lippen den Weg genommen hat.« – »Aber wie ist dies alles zugegangen?« unterbricht Rudolf den Arzt; »Wer hat mich aus dem schrecklichen Keller gezogen? Wer hat mich vom Tode des Ertrinkens errettet? Mir ists nur undeutlich zu mute, als hätte ich die Stimme Schuris gehört. Oder sollte ich mich geirrt haben?« – »Nein. Sie haben sich nicht geirrt«, erwidert der Arzt; »der brave Mann kann Ihnen selbst erzählen, wie es zugegangen, denn er allein hat das Werk Ihrer Rettung vollbracht.« – »Wo ist Schuri?« ruft Rudolf. – »Da steht er«, sagt der Arzt, »er scheint sich nicht zu Ihnen her zu getrauen.« – »Tritt näher, du Wackrer!« spricht Rudolf, seinem Retter die Hand entgegenhaltend .
Schuri fühlte sich um so beklommener, als er aus dem Munde des schwarzen Arztes verschiedentlich das Wort Hoheit als Anrede für Rudolf gehört hatte ... »Ich bitte um ... um Verzeihung, Herr Ru... Gnädigster Herr, wollte ich sagen«, fing Schuri an zu stammeln. – »Nenne mich, wie sonst: Rudolf,« erwiderte dieser, »mir ist das lieber, und dann – erzähle mir, wie alles zugegangen, und wie es dir möglich war, den Keller zu finden? Aber da fällt mir ein: Wo ist Bakel?« – »In Sicherheit«, antwortete der schwarze Arzt. – »Zusammengeschnürt wie eine Tabakrolle«, sagte Schuri, »was die beiden für ein Gesicht schneiden mögen, wenn sie einander in die Augen sehen!« – »Ach, und Murph? mein armer Murph?« klagte Rudolf, »jetzt erst besinne ich mich! Ist er schwer verwundet worden, David?« – »Er wird genesen, Hoheit«, sagte der Arzt, »wenn auch einige Zeit darüber hingehen wird.« – »Ich will furchtbare Abrechnung halten, David, und rechne dabei, auf Euch,« rief Rudolf, »nun aber du, Schuri! Wie war es möglich, daß du noch zur rechten Zeit kamst?« – »Sie wissen, gnädiger Herr Rudolf«, erwiderte, ängstlich sich umsehend, der unter dem Namen Schuri dem Leser bekannte Mann, »daß Sie mir gestern abend einen Auftrag an Bakel gaben. Ich habe ihn längere Zeit überall gesucht, bis ich ihn endlich in Kumpanei mit der Eule auf dem; Kirchhofe der Notre-Dame bei einem von der Gilde traf.