»Ich verstehe,« sagte der Bandit, »und kenne dich nun.« – »Dir scheint es gar nicht recht zu sein, daß du uns deinen Lebenslauf erzählt hast?« fragte Rudolf. – »Ich habs zum ersten Male in meinem Leben getan,« sagte die Sängerin, »und ein Rückblick in meine Vergangenheit muß mich ja trüb stimmen. Ach, wie schön mag es sein, als ehrlicher Mensch dazustehen.« – »Ehrlich? ehrlich?« rief Schuri, »dann spiele die Posse, versuchs, und du wirst sehen, wie weit du damit kommst.« – »Ehrlich?« sagte das Mädchen, »aber wie soll ich es sein können? Was ich auf dem Leibe trage, gehört meiner Wirtin. Wohnung und Essen bin ich ihr schuldig. Weg von hier kann ich nicht, sie ließe mich auf der Stelle als Diebin festnehmen. So lange ich mich nicht auslösen kann, gehöre ich ihr mit Leib und Seele.« – Ein Schauder überrieselte sie, als sie diese Worte sprach. Dann wandte sie sich zum Schuri und bat um einen Schluck zu trinken ... »Nein, keinen Wein,« sagte sie, als er ihr das Glas hinhielt, »Schnaps, Schnaps, den kann ich besser vertragen, wenigstens betäubt er schnell.«
Viertes Kapitel.
Schuris Geschichte.
Der vor kurzem eingetretene Gast hielt noch immer die beiden Männer mit dem polizeiwidrigen Aussehen im Auge, besonders den, der immer die linke Hand zu verstecken suchte. Beide hatten während der Erzählung der Sängerin mehrmals leise miteinander gesprochen und ängstlich nach der Tür geguckt. Der mit der griechischen Mütze sagte zu seinem Kameraden: »Bakel kommt nicht. Wenn ihn der Kamerad bloß nicht erschlagen hat!« – »Du meinst, um sich seinen Anteil mit anzueignen? Das wäre nun freilich sehr dumm für uns, denn wir hätten die Gelegenheit dann umsonst ausbaldowert.«
Der Neueingetretene saß zu weit von ihnen, um die Worte verstanden zu haben; er hatte aber wiederholt in ein Papier geguckt, das er aus seiner Mütze langte, aber gleich wieder darin versteckte. Dann stand er vom Tische auf und verschwand, ohne daß es jemand aufzufallen schien. Gerade als er hinausging, war Rudolfs Blick nach der Tür hin geglitten. Auf der Straße sah er den Kohlenträger mit seinem rußgeschwärzten Gesicht stehen und hatte Zeit genug, ihm durch eine ungeduldige Gebärde zu verstehen zu geben, daß ihm diese Aufsicht im höchsten Grade zuwider sei. Der Kohlenträger ließ sich aber hierdurch nicht beirren, sondern verhielt sich nach wie vor in der Schenke. Die Sängerin fand in dem Glase Schnaps, das sie getrunken, ihre Munterkeit nicht wieder, schien vielmehr in die finstersten Gedanken Zu versinken. Ein paarmal hatte sie, als sie Rudolfs festem Blicke begegnete, die Augen niedergeschlagen, ohne sich von dem Eindruck, den der Unbekannte auf sie machte, Rechenschaft geben zu können. Seine Gegenwart bedrückte sie sehr. Sie warf sich vor, dem Manne, der sie aus der Gewalt des Banditen befreit hatte, geringe Dankbarkeit entgegenzubringen. Es tat ihr fast leid, vor ihm die Beichte ihres Lebens abgelegt zu haben. Schuri dagegen war in der besten Laune, höchst mitteilsam und gesprächig. Vor Rudolfs manierlichem Benehmen war sein Groll, in ihm den Meister gefunden zu haben, schnell gewichen. Sein Glas austrinkend, hub er an:
»Sängerin, du hast wenigstens noch die alte Eule gehabt, wenn sie auch wert ist, daß der Teufel sie bei lebendigem Leibe holte. Bis zu der Zeit, da du als Landstreicherin eingesperrt wurdest, hast du wenigstens ein Dach überm Haupt gehabt; ich aber kann mich nicht besinnen, bis zu meinem neunzehnten Jahre, in welchem ich Soldat wurde, in einem Bette geschlafen zu haben.« – »So? Du hast gedient. Schuri?« fragte Rudolf. – »Drei Jahre,« versetzte Schuri, »davon aber später! Die Steine am Louvre, die Gipsöfen in Clichy und die Steinbrüche in Montrouge waren die Gasthäuser meiner Jugend. Mir schwebt düster vor, als hätte ich in meiner Kindheit mit einem alten Lumpensammler das Land durchpilgert und hätte mit dessen Kratzeisen manchen Hieb über den Buckel bekommen. Dann bin ich in Montfaucon bei Abdeckern gewesen und habe die Pferde mit abgestochen. Da mag ich wohl zehn bis zwölf Jahre alt gewesen sein. Es hat mir manchmal das Herz zerschnitten, wenn ich wieder so ein armes Tier in den letzten Zuckungen liegen gesehen habe. Nach vier Wochen hatte ich mich aber daran gewöhnt, und auf der Abdeckerei hatte keiner so scharfe Messer wie ich. Aber was bekam ich für meine Mühe? Von einem an irgend einer Krankheit krepierten Tier einen Fetzen Fleisch, denn die abgestochenen wurden an die Garköche in der Gegend verkauft, die es ihren Gästen bald als Hirsch, bald als Rindfleisch vorsetzten, je nachdem. Aber ich war trotzdem der glücklichste Mensch, wenn ich mein Stück Pferdefleisch in Händen hielt, und flink wie ein Fuchs war ich damit bei einem Gipsofen, um es mir mit Erlaubnis der Brenner auf den Kohlen zu braten.«
»Aber wie heißt du? Welchen Namen führtest du damals?« fragte Rudolf. – »Ich war damals fast weißer als jetzt, und die Augen waren mir mit Blut unterlaufen. Darum wurde ich immer nur Albino genannt.« – »Aber deine Eltern?« – »Die haben ebenda gewohnt, wo die Eltern unserer Sängerin. Und wo ich geboren bin? An der erstbesten Straßenecke, rechts ober links.« – »Und wie lange warst du in der Abdeckerei?« fragte Rudolf. – »Kanns nicht einmal sagen! Ich hatte mich zuletzt so in die Wut hineingearbeitet, daß ich, wenn ich einmal beim Abstechen war, wie toll drauflos stach und alle Häute verdarb. Das bekam der Meister satt und jagte mich schließlich weg. Nun suchte ich mir Arbeit bei Metzgern, denn für dies Gewerbe hatte ich immer eine gewisse Vorliebe. Aber da kam ich schön an! Diese hochnäsige Sippe verachtete mich ganz ebenso, wie ein Schuhmacher einen Flickschuster. Da habe ich Arbeit in den Montrouger Steinbrüchen gesucht, aber ich habe es bloß zwei Jahre ausgehalten. Dann bin ich zum Militär gegangen und habe einen prächtigen Grenadier abgegeben. Leider gab es damals keinen Krieg, sonst wäre ich vielleicht was Besseres geworden. In die vermaledeite Friedensdisziplin habe ich mich aber nicht finden können, und als mich eines Tages der Sergeant derb herannahm, kam es zwischen uns zur Rauferei, und da packte mich die alte Lust am Messerstechen, die mir noch von der Abdeckerei in den Gliedern steckte, ich stach den Sergeanten nieder und verwundete zwei Soldaten auf den Tod.«
Der Mörder ließ den Kopf sinken und verhielt sich eine Weile schweigend.
»Ich wurde überwältigt, eingesteckt und sollte füsiliert werden, wurde aber zu Zuchthaus begnadigt, weil ich einmal zwei Kameraden aus der Marne gefischt hatte, wo sie ohne mich elendiglich ertrunken wären. Als ich von der Begnadigung hörte, war ich so fuchswild, daß ich meinen Verteidiger fast an der Kehle gepackt hätte. Im Zuchthause zu vegetieren, war mir schrecklicher als ein schneller Tod. Drum habe ich es auch zweimal probiert, selbst Hand an mich zu legen, einmal durch Grünspan, das andere Mal wollte ich mich mit meiner Kette erdrosseln, aber ich bin nun einmal stark wie ein Ochse und zäh wie Sohlenleder. Vom Grünspan bekam ich einen Heidendurst und von der Kette bloß ein blaues Naturhalsband. Dann schwand der Selbstmordrappel; die Lust am Leben erwachte wieder, und ich fügte mich ins Bagnoleben wie andere auch. Dort hab ich unsern Meister Bakel kennen gelernt, der mich einmal ebenso verprügelt hat, wie Sie vorhin.«