»So? Er ist also auch Galeerenkandidat?« fragte Rudolf. – »Ja, war auf Lebenszeit verurteilt, ist aber geflohen.« – »Und nicht verraten worden?« – »Ich werde mich doch hüten, ihn anzuzeigen, habe ich doch schon einmal, wie gesagt, seine Fäuste gekostet!« – »Und auch die Polizei ist seiner nicht habhaft geworden? Besitzt sie denn sein Signalement nicht?« – »Bakel würde selbst der Teufel nicht mehr erkennen, wenn er ihm aus der Hölle entwischt wäre! Was an ihm kenntlich, hat er schon längst von seinem Leibe ausgemerzt.« – »Was Ihr sagt!« – »Ja, zuerst hat er sich die Nase abgesäbelt, die fast eine halbe Elle lang war; dann hat er sich das Gesicht mit Vitriol verbrannt.«
»Also sich ganz unkenntlich gemacht?« – »Er ist ein halbes Jahr aus Rochefort weg, und seitdem sind ihm wohl an hundert Gendarmen und Polizisten in den Weg gelaufen, ohne daß ihn einer wiedererkannt hätte.« – »Weshalb ist er ins Bagno gesteckt worden?« – »Weil er gefälscht, gestohlen, gemordet hat. Bakel heißt er deshalb, weil er wie gestochen schreibt und ein grundgescheiter Mensch ist.«
»Ueber kurz oder lang spinnen sie ihn doch wieder ein,« meinte Rudolf. – »Ihrer zwei gehören aber wenigstens dazu, ihn dingfest zu machen, denn er trägt unter seiner Bluse immer ein paar scharfgeladene Pistolen und einen Dolch.« – »Was hast du denn getrieben, seit du wieder in Freiheit bist?« – »Ich verdiene mir auf dem Holzhofe am Sankt-Pauls-Kai, was ich zum Lebensunterhalt brauche.« –
»Warum bist du aber hier im alten Viertel? Ein Dieb bist du doch im Grunde genommen nicht.« –
»Und wo sollte ich mich sonst aufhalten? Ich bin hier unter meinesgleichen und liebe nun mal Gesellschaft. Dabei bin ich gefürchtet wie das Feuer, und die Polizei kann mir nicht an den Kragen als höchstens mal wegen einer Rauferei, und darauf steht keine höhere Strafe als 24 Stunden Arrest.« – »Und bei alledem fühlst du dich doch nicht glücklich?« – »Nun, manchem gehts freilich noch schlechter als mir. Mich plagt bloß immer der Teufel, wenn meine schlimmen Träume von dem Sergeanten und den Soldaten kommen, die ich habe ins Gras beißen lassen. Wäre das nicht, könnte ich ruhig sterben wie jeder andere fromme Mensch, sei es im Krankenhause, sei es an irgend einer Straßenecke. Gern denke ich freilich nicht an den Tod,« und bei diesen Worten klopfte er an einer Ecke des Tisches seinen Pfeifenkopf aus.
Fünftes Kapitel.
Eine Verhaftung.
Der Mann, der einen Augenblick hinausgegangen war, kam jetzt mit einem andern breitschultrigen Manne wieder, aus dessen Gesicht Mut und Entschlossenheit leuchteten ... »Na, Borel,« sagte er zu ihm, »das nenne ich ein feines Zusammentreffen! Nur immer herein! Trink ein Glas Wein mit!« – Schuri rückte Rudolf näher, auch die Schalldirne, dann flüsterte er, auf die beiden Eingetretenen weisend: »Vorsichtig! Es gibt was ... es ist ein Spitzel ... Augen und Ohren offen gehalten!«
Die beiden Banditen – der mit der griechischen Mütze, der schon einige Male nach Bakel gefragt hatte, und sein Kumpan – standen zusammen auf und machten ein paar Schritte zur Tür hin. Aber die beiden Polizisten stießen einen seltsamen Ruf aus und packten sie. Nun begann ein wildes Ringen. Im andern Augenblick drangen andere Polizisten in die Kaschemme, und vor der Tür blitzten Flintenläufe.
Der Kohlenträger benützte den Tumult, um auf die Schwelle zu treten und Rudolf einen Wink zu geben, indem er den rechten Zeigefinger an die Lippen führte. Rudolf winkte ihm aber ebenso schnell wie gebieterisch, sich zu entfernen, und verfolgte die weiteren Vorgänge mit aufmerksamen Blicken.
Der Mann mit der griechischen Mütze schrie und heulte vor Wut. Halb auf dem Tische liegend, schlug er so wild um sich, daß ihn drei Polizisten kaum halten konnten. Sein Genosse war wie zu Boden geschmettert. Er sah leichenblaß aus, und seine Kinnlade zitterte krampfhaft, aber er widersetzte sich nicht, sondern hielt ruhig die Hände hin, um sich die Handschellen anlegen zu lassen. Die Wirtin war an dergleichen Auftritte gewöhnt und verhielt sich ruhig hinter dem Schenktische.
»Was haben die beiden Menschen verbrochen?« fragte sie einen der Polizisten, mit dem sie bekannt war, und der als Borel angesprochen worden war. – »Gestern in der Sankt-Christoph-Straße eine alte Dame ermordet, um sie zu berauben. Die Arme hat kurz vorm Verscheiden noch ausgesagt, sie habe einen der beiden Räuber in die Hand gebissen. Wir hatten gleich Witterung, und mein Kamerad war vorhin ein paar Augenblicke allein hier, sich zu vergewissern, daß wir auf der rechten Fährte seien. Jetzt haben wir die beiden Mordgesellen.«
Den mit der griechischen Mütze mußten die Gendarmen mit Gewalt in den grünen Polizeiwagen heben, der andere, der wie Espenlaub zitterte, konnte sich auf den Füßen nicht halten. Auch er wurde von Polizisten in den Wagen geschoben.
»Mutter Ponisse,« sagte Polizist Borel, »lassen Sie sich vorm Rotarm warnen. Es ist ein boshafter Wicht, der Sie leicht bloßstellen könnte. Vor allem nehmen Sie weder ein Paket noch sonst etwas von ihm in Verwahrsam. Sie machten sich sonst der Hehlerei schuldig.« – »Keine Sorge, Herr Borel! Vorm Rotarm fürchte ich mich wie vorm Teufel. Weiß man doch nie, wohin er will und woher er kommt ... Letztmals hieß es, er käme aus Deutschland herüber.«
Der Polizist faßte, bevor er die Kaschemme verließ, die anderen Gäste ins Auge. Als er Schuri sah, redete er ihn in fast liebevollem Tone an: »Na, auch hier, Tunichgut? Lange nichts von dir gehört! Wirst wohl, scheints, ein ganz artiges Büble?« – »Sintemalen der Schuri seinen Meister gefunden hat, lieber Herr Borel«, versetzte Schuri, Rudolf die Hand auf die Achsel legend. – »Oho, welch neues Gesicht?« rief der Polizist, »hab ich ja noch nie gesehen!« Und nun faßte er Rudolf scharf ins Auge, der aber leichthin erwiderte: »Werden auch wohl kaum Bekanntschaft miteinander machen, mein Lieber.« – »Nun, das wünsche ich in Ihrem eigensten Interesse«, versetzte der Polizist und sagte der Wirtin gute Nacht, worauf er noch scherzend sagte: »Ei, Mutter Ponisse, Ihre Kaschemme ist doch die richtige Mausefalle. Drei Mörder habe ich nun schon darin abgefaßt.« – »Hoffentlich sinds nicht die letzten«, erwiderte die Wirtin schmunzelnd, »jedenfalls bin ich durchaus zu Ihrem Befehl, Herr Borel!« Als der Polizist verschwunden war, setzte sie hinzu: »Na, Bakel kann sich gratulieren, daß er nicht da war. Der mit der griechischen Mütze hat ein paar mal nach ihm gefragt, es scheint also, daß sie Geschäfte mitsammen haben. Aber eine Frau wie ich verrät doch ihre Klienten nicht! Nanu! Wenn man den Wolf nennt, kommt er auch gerennt! Ein altes Sprichwort ... Da ist ja der Bakel mit seiner Gesponsin!« und sie wies auf ein Paar, das eben über die Schwelle trat.
Keiner von den Anwesenden konnte sich eines Schauders erwehren; selbst Rudolf konnte sich bei all seiner Unerschrockenheit eines heimlichen Bangens nicht erwehren, als er das gräßliche Gesicht dieses Hünen von Räuber erblickte. Es war von bläulichen Narben der Kreuz und Quere zersetzt; durch das Vitriol waren die Lippen dick aufgetrieben, die Nase war quer durchschnitten so daß an ihrer Stelle bloß zwei häßliche Löcher sichtbar waren. Ueber ihnen funkelten zwei hellgraue, kleine, runde Augen wie ein Paar Luchsaugen. Eine flache, tigerartige Stirn war über die Hälfte verdeckt von einer fuchsroten, langhaarigen Pelzmütze.
Bakel war nur weniges über fünf Fuß hoch. Sein übermäßig dicker Kopf steckte zwischen breiten, mächtigen Schultern. Lange, muskulöse Arme, kurze, bis an die Fingerspitzen behaarte Hände und auswärts gebogene Beine vollendeten die Häßlichkeit dieses Menschen. – Das Weib, das an seiner Seite die Kaschemme betrat, war schon alt, ziemlich reinlich gekleidet, hatte ein grünes, rundes Auge, eine Hakennase, schmale Lippen, vorspringendes Kinn und ein Gesicht von maßloser Bosheit und Pfiffigkeit. Es weckte unwillkürlich die Erinnerung an das einer Eule. Rudolf sah sie scharf von der Seite an. Mit stummem Entsetzen hatte die Schalldirne dies Weib gesehen. Zitternd vor Angst rückte sie zu Rudolf und flüsterte: »Die Eule! – Mein Jesus! die Eule! Die Einäugige!«