Bakel trat an den Tisch, an dem Rudolf mit der Schalldirne und Schüri im Gespräch saßen, und mit rauher, hohler Stimme, die wie ein Tigergeheul sich anhörte, sagte er zu dem Mädchen: »Heda, Blondchen, laß die beiden allein mit sich fertig werden und rück zu mir heran!« –
Das Mädchen gab keine Antwort, sondern rückte noch näher an Rudolf heran. Die Zähne schlugen ihr vor Angst aufeinander ... »Ich – ich werde nicht eifersüchtig werden«, sagte die Eule, indem sie das Gesicht zu einer schrecklichen Fratze verzog. Noch hatte sie ihr einstiges Opfer, »den Balg«, nicht wiedererkannt. – »Na, Dirndl«, rief der schreckliche Mensch, »hast keine Ohren? He?« Und er trat ihr um einen Schritt näher ... »Kommst Du nicht gutwillig, so schlag ich dir ein Auge aus dem Kopfe, daß du aussehen sollst wie meine Eule hier. Und du, Schlankerl mit dem schneidigen Schnauzer, langst du mir die Dirne nicht auf der Stelle über den Tisch herüber, so kriegst du es mit mir zu tun!« Die Hände vor das Gesicht schlagend, rief das Mädchen: »Ach Gott, Herr Rudolf, schützen Sie mich! Schützen Sie mich!« – »Nur ruhig, Kind, nur ruhig!« versetzte Rudolf, dem häßlichen Kerl unerschrocken in die Augen starrend; »wenn dir der Mensch da so zuwider ist, werde ich ihn zum Tempel hinausschmeißen.«
Bakel maß Rudolf mit einem Blicke maßloser Verachtung ... »Du?« fragte er, den Ton langziehend. – »Ja, ich«, versetzte Rudolf und stand, der Bemühungen des Mädchens, ihn zurückzuhalten, nicht achtend, vom Tische auf.
Bei dem schrecklichen Ausdruck, den Rudolfs Gesicht annahm, wich Bakel unwillkürlich einen Schritt zurück; auch dem Mädchen und dem Schuri fiel der maßlose Ausdruck von Wut und Bosheit auf der Stelle auf, der die edeln Züge ihres jungen Gefährten plötzlich entstellte, und ihn ganz unkenntlich machte. Beim Kampfe mit Schuri hatte er nur Spott und Hohn gezeigt; Bakel gegenüber schien ihn jedoch ein so wilder Haß zu packen, daß ihm die Pupillen schier aus den Höhlen traten. Rudolf besaß jenen magnetischen, durchdringenden Blick, der Entsetzen erregt und jeden, auf den er sich richtet, fasziniert, so daß er den Blick nicht abwenden kann. Bakel zitterte, wich einen weiteren Schritt zurück und fuhr mit der Hand unter die Bluse. Er hatte das Vertrauen zu seiner Stärke verloren und suchte Hilfe bei seinem Dolche ... Wahrscheinlich hätte ein Mord die Kaschemme mit Blut getränkt, wäre die Eule nicht Bakel in den Arm gefallen ...
»Eine Sekunde, Mörderchen! Eine Sekunde! Die bei ihm sitzt, ist, weiß der Teufel! mein Balg, meine Jöhre, die mir Gerstenzucker mauste, statt ihn zu verkaufen! ... Luderchen! Wo hast du denn gesteckt die lange Zeit über? Na, siehst, du kommst mir doch immer unter die Finger, Kröte! Aber ängstige dich weiter nicht. Einen Zahn werde ich dir ja nicht wieder ausreißen, aber Tränen will ich dir aus deinen schönen Augen locken, daß sie grün und blau werden sollen. Und schwarz ärgern sollst du dich über mich! Denk dir, Jöhre, jetzt weiß ich, wer dich in die Welt gesetzt hat. Im Bagno hat Bakel den Kerl getroffen, der dich zu mir brachte, als du noch ein ganz klein Püppchen warst. Denk dir nur, Jöhre, Vater und Mutter von Dir sind reiche Leute.« – »Was? Ihr kennt meine Eltern?« rief das Mädchen. – »Ja, mein Mann weiß, wer deine Mutter ist. Aber ehe ich leide, daß ers dir sagt, reiß ich ihm die Zunge aus. Er ist erst gestern noch mit dem zusammen gewesen, der dich zu mir brachte. Erst warst du bei seiner Frau, aber sie bekam kein Geld mehr für dich. Deine Mama hat sich nämlich nicht viel aus dir gemacht. Die hätts am liebsten gesehen, du wärest schnell gestorben. Aber der Mann, der dich zu mir gebracht hat, hat alle Ausweise über dich, sogar Briefe von deiner Mutter, und wenn er davon keinen Gebrauch macht, na, so hat er seine guten Gründe dazu. Aber flenne, soviel du willst, wer deine Mutter ist, erfährst du ganz sicher nicht.«
»Besser auch«, sagte das Mädchen, eine Träne aus den Augen wischend, »meine Mutter hält mich für tot.«
Rudolf hatte Bakel ganz vergessen über den Reden der Frau, und Bakel, als er sich nicht mehr unter der faszinierenden Gewalt von Rudolfs Blicken befand, war der Schwäche, die ihn befallen hatte, wieder Herr geworden. Daß der schmächtige Mensch daran denken könnte, sich mit ihm im Kampfe zu messen, wollte ihm nicht in den Sinn kommen, und im Vertrauen auf seine Riesenkraft trat er wieder zu dem Mädchen und rief der Eule grob zu: »Genug nun mit den Reden! Wenn du nicht herkommst, Mädel, dann zerfetze ich deinem jungen Laffen seine Fratze, damit ich dir noch schöner vorkomme, als er.«
Mit einem einzigen Satze war Rudolf über den Tisch hinüber. Bakel stellte sich in Fechtpositur, den Oberkörper zurückgeneigt und die beiden Arme vor sich hinstreckend, während er sich auf das eine seiner wuchtigen Beine wie auf einen Pfeiler stützte. Eben als Rudolf sich über ihn herstürzen wollte, ging die Tür der Kaschemme auf, und der Kohlenträger, ein Mann von fast sechs Fuß Höhe, trat rasch herein, schob den Meister Bakel beiseite, trat zu Rudolf heran und sagte diesem auf englisch ins Ohr: »Gnädiger Herr! Tom und Sarah warten am Ende der Straße.« – Rudolf machte, als er die Worte hörte, eine zornige Bewegung und warf einen Louisdor auf den Tisch. Dann rannte er zur Tür hin. Bakel wollte sich Rudolf in den Weg stellen. Rudolf aber versetzte ihm ein paar Faustschläge ins Gesicht, daß ihm Hören und Sehen verging. Wie betäubt wankte er zurück und stürzte mit halbem Leibe über den Tisch hin. Minuten vergingen, bis er sich wieder fassen konnte. Als er aber Rudolf hinter her rannte, war derselbe mit dem Kohlenträger schon im Straßengewirr verschwunden. Von der anderen Straßenseite her traten zwei Männer in die Kaschemme, fast außer Atem, wie von langem und schnellem Laufe. Als Bakel zurückkehrte, sah er noch, wie sich die beiden Männer in der Kaschemme verblüfft umsahen. Dann sagte der eine: »Gräßlich! Gräßlich! Abermals ist er uns entgangen« – »Geduld, Geduld!« sagte der andere, »jeder Tag ist vierundzwanzig Stunden lang, und ein Menschenleben währet, wenn auch nicht ewiglich, doch lange genug, um eine gestellte Aufgabe zu erfüllen.« Die beiden Männer redeten in englischer Zunge.
Sechstes Kapitel.
Tom und Sarah
Der eine der beiden Männer, die einer weit höheren Klasse angehörten, als die in der Kaschemme verkehrten, war groß und lang, hatte fast weißes Haar, aber schwarze Brauen und schwarzen Backenbart, dazu ein knochiges Gesicht und ein strenges, hartes Aussehen. An dem runden Hute, den er in der Hand hielt, war ein schwarzer Flor befestigt. Sein langer, schwarzer Rock war bis unter das Kinn zugeknöpft. Ueber engen braunen Tuchhosen trug er lange Stiefel. An Haltung, Wuchs und zartem Körperbau erkannte man leicht eine Dame in Männertracht.
»Tom,« sagte Sarah auf englisch, »fordern Sie etwas zu trinken und erkundigen Sie sich bei den Leuten nach ihm!« – »Jawohl, Sarah«, versetzte der Mann mit dem weißen Haar und den schwarzen Brauen. In fast reinem Französisch ersuchte er sodann die Wirtin um einen guten Trunk.
Der Eintritt der beiden Personen hatte in der Gaststube großes Aufsehen erregt, ließen doch ihre Kleidung und ihr Auftreten sofort erkennen, daß sie gemeinhin nicht an solchen Orten verkehrten, während anderseits ihre unruhigen, besorgten Mienen mutmaßen liehen, daß sie durch wichtige Gründe hierher geführt worden waren. Schürt, Bakel und Eule ließen keinen Blick von ihnen. Das unter dem Namen Schalldirne dem Leser bekannte Mädchen, erschreckt durch die Begegnung mit der Eule, wie durch die Drohungen Bakels, sie mit sich zu nehmen, hatte die Zeit wahrgenommen, um unbemerkt durch die halboffene Tür zu verschwinden. – Die Wirtin stellte eine Flasche auf den Tisch. Tom warf ein Hundertsousstück auf den Tisch, weigerte sich, das Geld zu nehmen, das ihm die Wirtin darauf herausgeben wollte und forderte statt dessen Mutter Ponisse auf, sich zu ihnen zu setzen. – »Sehr freundlich, mein Herr, sehr freundlich«, antwortete die Wirtin, einen verwunderten Blick auf Tom heftend. – »Geben Sie mir, bitte, Bescheid, liebe Frau«, erwiderte Tom, »auf eine Frage: wir wollten hier einen Bekannten treffen, einen großen, schmächtigen Herrn, der einen Schnurrbart trägt wie ich.« – »Ach, das ist doch der Herr, der eben noch hier gesessen hat«, sagte die Wirtin; »ein Kohlenträger rief ihn eben heraus, und mit ihm ist er fortgegangen.« – »Gewiß, die beiden sind es«, sagte Tom. – »Waren sie allein hier?« fragte Sarah. – »Der Kohlenträger war nicht mit in der Stube. Der Mann, den Sie mir beschrieben haben, saß hier mit einem Mann und einem Mädel, die bei uns die Namen Schalldirne und Schürmann führen.« Dabei zeigte die Wirtin auf den letzteren, während sie sich nach dem Mädchen vergeblich umsah. Tom und Sarah sahen sich nach Schuri um.