Es war eine inspirierende Aussicht. Auf Dr. Haber jedenfalls wirkte sie immer inspirierend. Darüber hinaus stieg der Luftdruck nach einer Woche sintflutartiger Regenfälle wieder an und die Sonne schien über dem Nebel auf dem Fluß. Durch tausend EEG-Ausdrucke war ihm die Verbindung zwischen dem Atmosphärendruck und der Schwermut des Geistes wohl bekannt, daher konnte er fast spüren, wie der angenehme trockene Wind sein psychosomatisches Befinden verbesserte. Muß das beibehalten, das Klima weiter verbessern, dachte er hastig, beinahe verstohlen. Mehrere Gedankengänge hatten sich in seinem Kopf geformt oder formten sich gerade, aber diese geistige Notiz bildete keinen Teil davon. Sie entstand rasch und wurde ebenso rasch im Gedächtnis abgespeichert, noch während er das Tonbandgerät auf seinem Schreibtisch einschaltete und damit begann, einen der zahlreichen Briefe zu diktieren, die der Leiter einer staatlichen Forschungseinrichtung nun einmal schreiben mußte. Das war natürlich reiner Papierkram, mußte aber auch getan werden, und er war der richtige Mann dafür. Er mißfiel ihm keineswegs, auch wenn er die Zeit, die Haber selbst mit Forschungen verbringen konnte, drastisch beschnitt. Inzwischen verbrachte er nur noch fünf oder sechs Stunden pro Woche im Labor und hatte selbst nur noch einen einzigen Patienten, obwohl er natürlich die Therapie verschiedener anderer überwachte.
Den einen Patienten behielt er freilich. Immerhin war er ja Psychiater. Er hatte sich der Schlafforschung und Oneirologie überhaupt nur zugewandt, um therapeutische Anwendungsmöglichkeiten zu finden. Theoretisches, weltfremdes Wissen, Wissenschaft um der Wissenschaft willen: es hatte keinen Sinn, etwas zu lernen, wenn man keinen praktischen Nutzen daraus ziehen konnte. Relevanz war sein Prüfstein. Er würde immer einen Patienten behalten, um sich selbst an diese grundsätzliche Verpflichtung zu erinnern, um in Kontakt mit der menschlichen Realität seiner Forschungen in Form der gestörten Persönlichkeitsstruktur individueller Menschen zu bleiben. Eine Person definiert sich ausschließlich über das Maß ihres Einflusses auf andere Menschen, durch die Sphäre ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen; und Ethik ist ein ganz und gar sinnloser Begriff, wenn man sie nicht als das Gute definiert, das man anderen erweist, als die Erfüllung der eigenen Funktion im soziopolitischen Ganzen.
Orr, sein aktueller Patient, kam heute um sechzehn Uhr, denn sie hatten die nächtlichen Sitzungen aufgegeben; und Miss Crouch erinnerte um die Mittagszeit daran, daß bei der heutigen Sitzung eine Gutachterin des Gesundheitsamts anwesend sein würde; um sich zu vergewissern, daß nichts Ungesetzliches, Unmoralisches, Ungebührliches Un- usw. mit der Anwendung des Verstärkers einher ging. Gottverdammte naseweise Behörden.
Das waren die Nachteile des Erfolgs und seiner Begleiterscheinungen Rampenlicht, öffentliche Neugier, Neid und Mißgunst, Kollegenrivalität. Wäre er noch ein Privatforscher, der sich im Schlaflabor der Uniklinik und einer zweitklassigen Praxis im Willamette East Tower abquälte, hätte ganz bestimmt niemand von dem Verstärker Notiz genommen, bis er ihn zur Marktreife entwickelt hatte, und man hätte ihn in Ruhe gelassen, bis er das Gerät und seine Applikationen verbessert und perfektioniert gehabt hätte. Jetzt war er mit dem intimsten und komplexesten Teil seines Metiers beschäftigt, Psychotherapie mit einem gestörten Patienten, und der Staat wußte nichts Besseres, als ihm einen Anwalt ins Haus zu schicken, der nicht die Hälfte von dem verstand, was vor sich ging, und den Rest falsch verstand.
Der Anwalt traf um 15:45 Uhr ein, und Haber kam unverzüglich ins Vorzimmer, um ihn — sie, wie sich herausstellte — zu begrüßen und gleich von Anfang an einen freundschaftlichen, herzlichen Eindruck zu hinterlassen. Es lief besser, wenn sie sahen, daß man angstfrei, kooperativ und persönlich umgänglich war. Viele Ärzte machten kein Hehl aus ihren Vorbehalten, wenn ein Inspektor des Gesundheitsamts sie besuchte; und diese Ärzte erhielten folgerichtig nicht viele staatliche Forschungsgelder.
Es war nicht ganz leicht, freundschaftlich und herzlich mit der Anwältin umzugehen. Sie schnappte und klickte. Schwerer Messingschnappverschluß an der Handtasche, schwerer, klirrender Kupfer- und Messingschmuck, Schuhe mit Blockabsätzen, ein wuchtiger Silberring mit einer abscheulich häßlichen afrikanischen Maske, stirnrunzelnde Augenbrauen, harte Stimme: klack, schepper, schnapp … In den zweiten zehn Sekunden kam Haber zu der Überzeugung, daß das alles tatsächlich eine Maske war, wie der Ring schon verriet: viel Schall und Wahn, die Unsicherheit kaschierten. Das ging ihn freilich nichts an. Er würde die Frau hinter der Maske niemals kennenlernen, und sie war auch nicht relevant, wenn er nurden richtigen Eindruck auf Miss Lelache, die Anwältin, machen konnte.
Es lief zwar nicht herzlich, aber es lief auch nicht schlecht; sie war kompetent, sie hatte schon ähnliche Aufgaben absolviert, und sie hatte ihre Hausaufgaben für diesen speziellen Auftrag gemacht. Sie konnte die richtigen Fragen stellen und zuhören.
»Dieser Patient, George Orr«, sagte sie, »der ist kein Süchtiger, richtig? Stellen Sie nach einer dreiwöchigen Therapie die Diagnose psychotisch oder geistesgestört?«
»Geistesgestört, wie das Gesundheitsamt das Wort definiert. Schwer geistesgestört und mit künstlicher Realitätsorientierung, aber nach der aktuellen Therapie auf dem Weg der Besserung.«
Sie hatte einen Taschenrekorder dabei und zeichnete das alles auf: alle fünf Sekunden machte das Ding biep, wie es das Gesetz verlangte.
»Könnten Sie mir die Therapie, die Sie anwenden, bitte beschreiben, biep, und erklären, welche Rolle dieses Gerät dabei spielt? Erzählen Sie mir nicht, biep, wie es funktioniert, das steht in Ihrem Bericht, sondern, was es macht. Biep, wie unterscheidet sich seine Anwendung zum Beispiel vom Elektroson oder der Trancekappe?«
»Also, diese Geräte erzeugen, wie Sie wissen, verschiedene niederfrequente Impulse, die die Nervenzellen in der Großhirnrinde stimulieren. Diese Signale könnte man laienhaft als allgemein bezeichnen; ihre Wirkung auf das Gehirn wird in einer Art und Weise erreicht, die im wesentlichen vergleichbar ist mit der von Stroboskoplicht in einem kritischen Rhythmus oder einem auralen Stimulus, wie etwa einem Trommelschlag. Der Verstärker sendet ein ganz bestimmtes Signal, das von einem ganz bestimmten Bereich des Gehirns empfangen werden kann. Zum Beispiel kann man ein Subjekt so trainieren, daß es willentlich Alpharhythmen produziert, wie Ihnen sicher bekannt ist; aber der Verstärker kann das ohne Training induzieren, und das obendrein in einem Zustand, in dem das Subjekt normalerweise nicht für den Alpharhythmus empfänglich ist. Er speist einen Alpharhythmus von neun Zyklen durch angemessen plazierte Elektroden ein, und das Gehirn kann diesen Rhythmus schon Sekunden später akzeptieren und so gleichmäßig wie ein Zen-Buddhist in Trance Alphawellen erzeugen. Auf dieselbe Weise kann man, was nützlicher ist, jedes Schlafstadium mit seinen typischen Zyklen und regionalen Gehirntätigkeiten induzieren.«
»Stimuliert er auch das Lustzentrum oder das Sprachzentrum?«
Oh, das moralinsaure Funkeln im Auge eines jeden Gesundheitsinspektors, wenn das Lustzentrum zur Sprache kam! Haber verbarg jeden Anflug von Ironie und Unmut und antwortete ganz im Tonfall freundlicher Aufrichtigkeit. »Nein. Es handelt sich nicht um ESB, wissen Sie. Es ist nicht wie eine elektrische Stimulation oder eine chemische Stimulation eines Zentrums; es beinhaltet keinerlei Einfluß auf bestimmte Bereiche des Gehirns. Der Verstärker bewirkt lediglich, daß sich die gesamte Tätigkeit des Gehirns verändert, daß es in ein anderes seiner natürlichen Stadien wechselt. Es ist ein bißchen wie eine eingängige Melodie, ein Ohrwurm, bei dem man sofort mit den Füßen mitwippt. Das Gehirn tritt also in das Stadium ein, das für die Therapie gewünscht wird, und verharrt darin, solange es notwendig ist. Ich habe das Gerät absichtlich Verstärker genannt, um seine nichtkreative Funktion zu betonen. Nichts wird von außen aufgezwungen. Der Schlaf, der mittels des Verstärkers induziert wird, ist exakt und im wahrsten Sinne des Wortes Schlaf, wie er für dieses bestimmte Gehirn normal ist. Der Unterschied zwischen dem Verstärker und den Elektroschlafmaschinen ist wie der zwischen einem Maßanzug und einem Anzug von der Stange. Der Unterschied zwischen ihm und Elektrodenimplantation ist — oh, verdammt — der zwischen einem Skalpell und einem Vorschlaghammer!«