»Die Möglichkeit, daß die Maschine diesen Effekt erzeugt, ist ausgeschlossen?«
»Ja.« Tatsächlich hatte er einmal versucht, Orrs Gehirn mit dem Wiederabspielen einer dieser Peackurven zu stimulieren, aber der Traum, der diesem Experiment folgte, war zusammenhanglos gewesen, ein Mischmasch aus dem vorherigen Traum, bei dem der Verstärker den Peak aufgenommen hatte, und dem gegenwärtigen. Aber es hätte keinen Sinn, unschlüssige Experimente zu erwähnen. »Jetzt, wo er schon mitten in seinem Traum ist, schalte ich den Verstärker ab. Achten Sie darauf, ob Sie erkennen können, wann ich den Input unterbreche.« Sie konnte es nicht. »Er könnte dennoch einen Geistesblitz für uns zustande bringen; behalten Sie die Kurven im Auge. Sie bemerken ihn vielleicht zuerst am Thetarhythmus da, vom Ammonshorn. Wenn ich herausfinde, welche anderen Gehirne in welchen Stadien dieses Phänomen aufweisen, kann ich vielleicht wesentlich exakter bestimmen, wo das Problem dieses Subjekts liegt, es könnte einen psychologischen oder neurophysiologischen Typ geben, dem es angehört. Begreifen Sie jetzt die Forschungsmöglichkeiten des Verstärkers? Und er hat keine andere Nebenwirkung auf den Patienten, abgesehen davon, daß er sein Gehirn vorübergehend in eben die ganz normalen Stadien versetzt, die der Arzt untersuchen möchte. Sehen Sie da!« Sie bekam den Peak natürlich nicht mit; es erforderte Übung, EEG-Kurven zu lesen, die über einen Monitor huschten. »Er hat sein Pulver verschossen. Träumt aber immer noch … Bald wird er uns davon erzählen.« Er konnte nicht weitersprechen. Sein Mund war trocken geworden. Er spürte es: den Wechsel, die Ankunft, die Veränderung.
Die Frau spürte es auch. Sie sah furchtsam aus. Sie hielt die schwere Messinghalskette wie einen Talisman an den Hals und betrachtete von Angst, Schock und Grauen gepackt das Panorama vor dem Fenster.
Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte geglaubt, daß er als einziger die Veränderung bemerken würde.
Aber sie hatte gehört, wie er Orr gesagt hatte, was er träumen sollte; sie hatte neben dem Träumenden gestanden; sie war wie er im Zentrum gewesen. Und wie er hatte sie sich zum Fenster umgedreht und sah die Türme verschwinden, die wie ein Traum verblaßten, ohne eine Spur zu hinterlassen, sah die substanzlosen Meilen der Vorstädte wie Rauch im Wind vergehen, sah die Stadt Portland, die vor den Jahren des Schwarzen Todes eine Bevölkerungszahl von einer Million Menschen gehabt hatte, heute jedoch, zur Zeit des Wiederaufbaus, nur noch rund hunderttausend zählte und wie alle Städte Amerikas ein Durcheinander und ein Chaos bildete, aber durch die Berge und den nebelverhangenen Fluß mit seinen sieben Brücken zusammengehalten wurde, sah das alte zweiundvierzigstöckige Hochhaus der First National Bank, das die Silhouette der Innenstadt beherrschte, und weit dahinter, über allem, die majestätischen und fahlen Berge …
Sie sah, wie es passierte. Und ihm wurde klar, er hatte nie im Leben damit gerechnet, daß die Inspektorin des Gesundheitsamts es sehen würde. Das schien nicht möglich zu sein, er hatte keinen Gedanken daran verschwendet. Und das wiederum bedeutete, daß er selbst nicht an die Veränderung, an die Wirkung von Orrs Träumen geglaubt hatte. Obwohl er es mittlerweile bestürzt, furchtsam, aufgeregt schon ein Dutzend Mal gespürt, gesehen hatte; obwohl er miterlebt hatte, wie aus dem Pferd ein Berg wurde (wenn man beobachten kann, wie eine Realität mit der anderen überlappt); obwohl er die wirkungsvolle Kraft von Orrs Träumen jetzt schon seit fast einem Monat auf die Probe stellte und ausnutzte, hatte er nicht an das geglaubt, was da geschah.
Den ganzen heutigen Tag, seit seiner Ankunft bei der Arbeit, hatte er nicht einen einzigen Gedanken an die Tatsache verschwendet, daß er vor einer Woche nicht der Direktor des Oneirologischen Instituts von Oregon gewesen war, weil es gar kein Institut gegeben hatte. Seit letztem Freitag existierte das Institut jetzt achtzehn Monate. Und er war sein Gründer und Direktor. Und weil das so war — für ihn, für alle Mitarbeiter, für seine Kollegen an der Uniklinik und den Staat, der es förderte —, hatte er es, genau wie sie, ganz und gar als die einzige Realität akzeptiert. Er hatte seine Erinnerungen an die Tatsache unterdrückt, daß es bis zum letzten Freitag nicht so gewesen war.
Das war Orrs bei weitem erfolgreichster Traum gewesen. Er hatte in der alten Praxis auf der anderen Seite des Flusses seinen Anfang genommen, unter diesem verdammten Wandbild des Mount Hood, und in diesem Büro sein Ende gefunden … und er war dabei gewesen, hatte gesehen, wie sich die Wände um ihn herum veränderten, hatte gewußt, daß die Welt neu geschaffen wurde, und hatte es wieder vergessen. Er hatte es so gründlich vergessen, daß er sich nie gefragt hatte, ob eine Fremde, eine dritte Person, dasselbe Erlebnis haben könnte.
Welche Auswirkungen würde es auf die Frau haben? Würde sie es begreifen, würde sie den Verstand verlieren, was würde sie tun? Würde sie, so wie er, beide Erinnerungen behalten, die wahre und die neue?
Das durfte sie nicht. Sie würde sich einmischen, würde noch mehr Beobachter ins Spiel bringen, das Experiment gründlich verderben, seine Pläne zunichte machen.
Er würde sie um jeden Preis daran hindern. Er drehte sich gewaltbereit und mit geballten Fäusten zu ihr um.
Sie stand nur da. Ihre braune Haut war blaß geworden, ih Mund stand offen. Sie war benommen. Sie konnte nicht glauben, was sie vor dem Fenster gesehen hatte. Sie konnte es nicht glauben und glaubte es nicht.
Habers extreme körperliche Anspannung ließ ein wenig nach. Wenn er sie ansah, war er ziemlich sicher, daß sie in ihrer Verwirrung und ihrem Trauma harmlos sein würde. Dennoch mußte er schnellstens handeln.
»Er wird jetzt eine Weile schlafen«, sagte er; seine Stimme hörte sich beinahe normal an, wenn auch ein wenig heiser, weil seine Halsmuskulatur so verkrampft war. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, plapperte aber weiter munter drauflos; was auch immer erforderlich sein würde, um den Bann zu brechen. »Ich versetze ihn jetzt in eine kurze Phase orthodoxen Schlafs. Aber nicht zu lange, sonst ist seine Erinnerung an den Traum vage. Eine schöne Aussicht, nicht wahr? Diese Ostwinde, die wir haben, sind ein Geschenk des Himmels. Im Herbst und Winter kann ich die Berge manchmal monatelang nicht sehen. Aber wenn sich die Wolken verziehen, dann sind sie da. Ein herrliches Land, Oregon. Der unberührteste Bundesstaat. Wurde vor dem Zusammenbruch nicht so sehr ausgebeutet. Portlands Wachstum begann erst in den späten siebziger Jahren. Wurden Sie in Oregon geboren?«
Nach einer Minute nickte sie benommen. Der sachliche Tonfall seiner Stimme drang allmählich zu ihr durch, wenn auch sonst nichts.
»Ich stamme eigentlich aus New Jersey. Dort war es schrecklich während meiner Kindheit, wegen der Umweltverschmutzung. Es ist unglaublich, wieviel nach dem Zusammenbruch an der Ostküste abgerissen und wieder aufgeforstet werden mußte und noch wird. Hier draußen hatten Überbevölkerung und eine verfehlte Umweltpolitik noch keine so gravierenden Schäden angerichtet, außer in Kalifornien. Das Ökosystem von Oregon war noch intakt.« Es war gefährlich, dieses unverblümte Gespräch über das kritische Thema, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein: er handelte wie unter einem Zwang. Sein Kopf war zu voll, er enthielt zwei verschiedene Erinnerungen, zwei vollständige Informationssysteme: eines der (nicht mehr) realen Welt mit einer Weltbevölkerung von knapp sieben Milliarden, die wie eine geometrische Reihe anwuchs, und eines der (jetzt) realen Welt mit einer Bevölkerung von nicht einmal einer Milliarde, die sich immer noch nicht stabilisiert hatte.