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Die Tür fiel ins Schloß. Die Luftmatratze federte erneut, als Mannie sich dorthin setzte, wo der Arzt gesessen hatte. Ein schwacher Geruch, süßlich, wie von frisch geschnittenem Gras, breitete sich aus. Aus der Dunkelheit geschlossener Lider, dem Nebel, der überall ringsum aufstieg, drang wie aus weiter Ferne Mannies Stimme. »Ist es nicht wunderbar, am Leben zu sein?«

2

Das Tor zu Gott ist Nicht-Sein.

Dschuang-Dsi, XXIII

Dr. William Habers Praxis hatte keine Aussicht auf Mount Hood. Es handelte sich um eine der innen gelegenen Gewerbesuiten im dreiundsechzigsten Stock des Willamette East Tower und hatte überhaupt keine Aussicht. Aber eine der fensterlosen Wände zeigte ein großes fotografisches Wandbild von Mount Hood, und das betrachtete Dr. Haber, als er über Sprechanlage mit seiner Vorzimmerdame redete.

»Wer ist dieser Orr, der jetzt drankommt, Penny? Der Hysteriker mit den Leprasymptomen?«

Sie saß nur drei Schritte jenseits der Mauer von ihm entfernt, aber eine Bürosprechanlage weckt, ebenso wie ein Diplom an der Wand, Zuversicht beim Patienten wie auch beim Arzt. Und es gehört sich nicht, daß ein Psychiater selbst die Tür aufreißt und »Der Nächste!« ruft.

»Nein, Doktor, das ist Mr. Greene morgen um zehn. Dies ist der, den uns Dr. Walters von der Universitätsklinik herschickt, ein FTB-Fall.«

»Medikamentenmißbrauch. Richtig. Ich habe die Akte hier. Okay, schicken Sie ihn rein, wenn er da ist.«

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da konnte er den Fahrstuhl aufheulen und anhalten, die Türen zischend aufgehen hören; danach Schritte, Zögern, die Vorzimmertür, die geöffnet wurde. Außerdem konnte er jetzt, wo er horchte, Türen, Schreibmaschinen und Toilettenspülungen den ganzen Flur hinauf und hinab und auf den Stockwerken über und unter sich hören. Der wahre Trick bestand darin, sie nicht zu hören. Die einzig verbliebenen soliden Wände befinden sich im Kopf.

Während Penny die Formalitäten des ersten Besuchs mit dem Patienten durchging und Dr. Haber wartete, betrachtete er abermals das Wandbild und fragte sich, wann diese Fotografie gemacht worden sein konnte. Blauer Himmel, Schnee von den Vorgebirgen bis zum Gipfel. Zweifellos schon vor geraumer Zeit, in den sechziger oder siebziger Jahren. Die Folgen des Treibhauseffekts hatten sich nur langsam gezeigt, und Haber, der 1962 geboren worden war, konnte sich deutlich an den blauen Himmel seiner Kindheit erinnern. Heute war der ewige Schnee von allen Bergen der Erde verschwunden, sogar vom Everest, sogar vom Erebus mit seinem Feuerschlund an der Küste der antarktischen Wüste. Aber natürlich hätten sie auch eine moderne Fotografie nachkolorieren, den blauen Himmel und den weißen Gipfel fälschen können; schwer zu sagen.

»Guten Tag, Mr. Orr!« sagte er, stand auf, lächelte, streckte jedoch nicht die Hand aus, denn viele Patienten litten heutzutage unter einer ausgeprägten Abscheu vor Körperkontakt.

Der Patient zog unsicher die fast dargebotene Hand zurück und fingerte nervös an seiner Halskette. »Wie geht es Ihnen?« sagte er. Die Halskette war das übliche Modell, lang und aus versilbertem Stahl. Gewöhnliche Kleidung, Büroangestelltenstandard; Haarschnitt konservativ schulterlang, Bart kurz. Helle Haare und Augen, ein kleiner, zierlicher, blonder Mann, leicht unterernährt, bei guter Gesundheit, zwischen achtundzwanzig und zweiunddreißig Jahren. Unaggressiv, sanftmütig, ein Hasenfuß, selbstbeherrscht, konventionell. Der wichtigste Zeitraum der Beziehung zu einem Patienten, sagte Haber häufig, waren die ersten zehn Sekunden.

»Setzen Sie sich, Mr. Orr. Prima! Rauchen Sie? Die mit braunen Filtern beruhigen, die mit weißen sind nikotinfrei.« Orr rauchte nicht. »Also, mal sehen, ob wir Ihre Situation richtig einschätzen. Das Gesundheitsamt möchte wissen, warum Sie sich die Pharmaziekarten Ihrer Freunde ausgeborgt haben, um sich mehr als die Ihnen zustehende Ration Aufputschmittel und Schlaftabletten am Medikamentenautomaten zu beschaffen. Richtig? Darum haben die Sie zu den Jungs auf dem Hügel geschickt, und die wiederum haben Freiwillige Therapeutische Behandlung vorgeschlagen und Sie zur Therapie an mich überwiesen. Alles korrekt?«

Er hörte seinen eigenen jovialen, entspannten Tonfall, der sorgfältig einstudiert war, damit sich die andere Person entspannte; aber der hier war alles andere als entspannt. Er blinzelte häufig, seine Sitzhaltung wirkte verkrampft, die Haltung seiner Hände übertrieben förmlich: das klassische Bild unterdrückter Nervosität. Er nickte, als würde er gleichzeitig nach Luft ringen.

»Okay, prima, das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn Sie Ihre Tabletten gehortet hätten, um sie an Süchtige zu verkaufen oder einen Mord zu begehen, säßen Sie jetzt in der Patsche. Aber da Sie sie selbst genommen haben, ist Ihre Strafe nicht schlimmer als ein paar Sitzungen bei mir! Aber ich möchte natürlich wissen, warum Sie sie genommen haben, damit wir dann gemeinsam einen besseren Lebensplan für Sie ausarbeiten können, der einerseits dafür sorgt, daß Sie innerhalb der Dosierungslimits Ihrer Pharmaziekarte bleiben, Sie aber andererseits vielleicht völlig von der Medikamentenabhängigkeit heilt. Sie haben gewohnheitsmäßig«, er warf einen kurzen Blick in den Ordner, den die Uniklinik geschickt hatte, »zwei Wochen Barbiturate eingenommen, dann ein paar Nächte zu Dextroamphetamin gewechselt, und dann wieder zurück zu Barbituraten. Wie fing das an? Schlaflosigkeit?«

»Ich schlafe gut.«

»Aber Sie haben Alpträume.«

Der Mann sah ängstlich auf: ein Anflug unverhohlenen Entsetzens. Das würde ein einfacher Fall werden. Er hatte keine Schutzmechanismen.

»Irgendwie schon«, sagte er heiser.

»Das war für mich leicht zu erraten, Mr. Orr. Sie schicken mir normalerweise die mit Träumen.« Er grinste den kleinen Mann an. »Ich bin Traumspezialist. Buchstäblich. Oneirologe. Schlaf und Träume sind mein Metier. Okay, damit komme ich zur nächsten klugen Schlußfolgerung, nämlich der, daß Sie das Phenobarbiturat genommen haben, um die Träume zu unterdrücken, aber feststellen mußten, daß das Medikament bei zunehmender Gewöhnung Träume immer weniger unterdrückt, und schließlich gar nicht mehr. So ähnlich verhält es sich mit dem Dexedrin. Also haben Sie sie abwechselnd genommen. Richtig?«

Der Patient nickte steif.

»Warum war der Zeitraum der Einnahme von Dexedrin stets kürzer?«

»Es machte mich nervös.«

»Das kann ich mir denken. Und die letzte kombinierte Dosis, die Sie einnahmen, brachte das Faß zum Überlaufen. War aber an sich nicht gefährlich. Trotzdem haben Sie etwas Gefährliches gemacht, Mr. Orr.« Er legte eine rhetorische Pause ein. »Sie haben Ihre Träume unterdrückt.«

Der Patient nickte abermals.

»Würden Sie versuchen, Nahrungs- und Wasseraufnahme zu unterdrücken, Mr. Orr? Haben Sie in letzter Zeit einmal versucht, ohne Luft auszukommen?«

Er wahrte den jovialen Tonfall, und der Patient brachte ein kurzes, unglückliches Lächeln zustande.

»Sie wissen, daß Sie Schlaf brauchen. So, wie Sie Nahrung, Wasser und Luft brauchen. Aber ist Ihnen klar, daß Schlaf allein nicht ausreicht, daß Ihr Körper ebenso nachdrücklich darauf besteht, sein gerüttelt Maß an Traumschlaf zu bekommen? Wenn Ihrem Gehirn systematisch alle Träume entzogen werden, wird es ziemlich merkwürdige Dinge mit Ihnen anstellen. Es wird Sie gereizt, hungrig und unkonzentriert machen — kommt Ihnen das bekannt vor? Das lag nicht nur an dem Dexedrin! — Neigung zu Tagträumen, unregelmäßige Reaktionszeiten, Vergeßlichkeit, Verantwortungslosigkeit und eine Tendenz zu paranoiden Wahnvorstellungen. Und zuletzt wird es Sie zwingen, zu träumen — ganz gleich, wie. Kein uns bekanntes Medikament kann Sie am Träumen hindern, es sei denn, es bringt Sie um. Extremer Alkoholismus kann beispielsweise zu einem Zustand führen, der zentrale varolische Myelinolyse genannt wird und tödlich ist; Ursache dafür ist eine Schädigung des Hirnstamms, die durch fehlende Träume ausgelöst wird. Nicht durch Schlafmangel! Durch das Fehlen eben jenes bestimmten Stadiums, das im Schlaf eintritt, das Traumstadium, REM-Schlaf, sogenannter paradoxer Schlaf. Sie sind jedenfalls kein Alkoholiker und nicht tot, darum weiß ich, was immer Sie genommen haben, um Ihre Träume zu unterdrücken, hat nur teilweise funktioniert. Aus diesem Grund sind Sie a) durch teilweisen Traumentzug in einer recht schlechten körperlichen Verfassung, und b) haben Sie versucht, in eine Sackgasse zu gehen. Gut. Warum wollten Sie in diese Sackgasse gehen? Angst vor Träumen, vor Alpträumen, nehme ich an, oder was Sie als Alpträume betrachten. Können Sie mir irgend etwas über diese Träume erzählen?«