»Welche Position?«
»Na ja. Leitender Direktor einer staatlich finanzierten Forschungseinrichtung.«
Ihm gefiel, wie sie ihre verbissenen, verächtlichen Sätze so häufig mit einem schwachen, versöhnlichen »na ja« einleitete. Sie zog ihnen damit den Boden unter den Füßen weg, noch ehe sie richtig begannen, und ließ sie haltlos in der Leere hängen. Sie hatte Mut, großen Mut.
»Oh, ja, ich verstehe«, sagte er vage. Dr. Haber hatte den Posten des leitenden Direktors einen Tag, nachdem Orr seine Blockhütte bekommen hatte, erhalten. Den Traum von der Blockhütte hatte er in einer Sitzung, die die ganze Nacht andauerte, gehabt; eine weitere hatten sie nicht mehr versucht. Hypnotische Suggestion von Trauminhalten wirkte beim nächtlichen Träumen nur unzureichend, daher hatte Haber um drei Uhr nachts schließlich aufgegeben, Orr an den Verstärker angeschlossen und ihm den Rest der Nacht ein Tiefschlafmuster eingespeist, damit sie sich beide entspannen konnten. Aber am nächsten Nachmittag hatten sie wieder eine Sitzung, doch der Traum, den Orr dabei geträumt hatte, war so lang, so wirr und so kompliziert gewesen, daß er nie genau sagen konnte, was er alles verändert, welche guten Taten Haber während dieser Zeit erreicht hatte. Er war in der alten Praxis eingeschlafen und im Büro des O. I. O. aufgewacht: Haber hatte sich eine Beförderung erschlichen. Aber das war längst nicht alles gewesen — wie es schien, war das Wetter seit diesem Traum offenbar nicht mehr ganz so regnerisch; vielleicht hatten sich auch noch andere Dinge verändert. Er war nicht sicher. Er hatte dagegen protestiert, soviel wirkungsvolle Träume in so kurzer Zeit zu träumen. Haber hatte sich sofort bereit erklärt, ihn nicht zum Äußersten zu treiben, und ihm fünf Tage ohne eine Sitzung gewährt. Also war Haber doch ein wohlmeinender Mensch. Und außerdem wollte er die Gans, die goldene Eier legte, sicher nicht umbringen.
Die Gans. Exakt. Das ist die perfekte Bezeichnung für mich, dachte Orr. Eine verdammte weiße, fade dumme Gans. Er hatte einen Teil von Miss Lelaches Worten nicht gehört. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hab was nicht mitbekommen. Ich glaube, ich bin gerade nicht ganz recht im Kopf.«
»Geht es Ihnen gut?«
»Ja, ausgezeichnet. Ich bin nur müde.«
»Sie hatten einen beunruhigenden Traum über den Schwarzen Tod, nicht? Sie haben hinterher schrecklich ausgesehen. Geht es Ihnen nach diesen Sitzungen immer so?«
»Nein, nicht immer. Heute war es besonders schlimm. Ich nehme an, das konnten Sie sehen. Haben Sie ein Treffen vereinbart?«
»Ja. Montag zum Mittagessen. Sie arbeiten in der Innenstadt, richtig, bei Bradford Industries?«
Zu seinem gelinden Erstaunen wurde ihm klar, daß das stimmte. Die großen Stauprojekte von Bonneville-Umatilla existierten nicht mehr, um die Riesenstädte John Day und French Glen, die nicht mehr existierten, mit Wasser zu versorgen. Es gab keine Großstädte in Oregon, mit Ausnahme von Portland. Er arbeitete nicht mehr als Bauzeichner für den Bezirk, sondern für eine private Werkzeugfirma in der Innenstadt; er arbeitete in der Verwaltung in der Stark Street. Natürlich. »Ja«, sagte er. »Ich habe von eins bis zwei Mittagspause. Wir könnten uns im Dave’s in der Ankeny treffen.«
»Zwischen eins und zwei ist hervorragend. Also im Dave’s. Wir sehen uns am Montag dort.«
»Warten Sie«, sagte er. »Hören Sie zu. Könnten Sie — würden Sie mir erzählen, was Dr. Haber gesagt hat, ich meine, was er mir unter Hypnose zu träumen befohlen hat? Sie haben doch alles gehört, oder nicht?«
»Ja, aber das könnte ich nicht. Ich würde in seine Therapie eingreifen. Wenn er wollte, daß Sie es wissen, würde er es Ihnen sagen. Es wäre unethisch, ich kann nicht.«
»Vermutlich haben Sie recht.«
»Ja. Es tut mir leid. Also Montag?«
»Wiedersehen«, sagte er, fühlte sich plötzlich überwältigt von Niedergeschlagenheit und düsteren Vorahnungen und legte auf, ohne sie wiedersehen sagen zu hören. Sie konnte ihm nicht helfen. Sie war couragiert und stark, aber nicht so stark. Vielleicht hatte sie die Veränderung gesehen oder gespürt, aber sie hatte das Erlebnis geleugnet, verdrängt. Warum auch nicht? Sie waren eine unerträgliche Last, diese doppelten Erinnerungen, und sie hatte keinen Grund, sich diese Last aufzubürden, kein Motiv, auch nur einen Augenblick einem stammelnden Psychopathen zu glauben, der behauptete, daß seine Träume wahr wurden.
Morgen war Samstag. Eine lange Sitzung bei Haber, sechzehn bis achtzehn Uhr oder länger. Kein Ausweg.
Es war Zeit, etwas zu essen, aber Orr hatte keinen Hunger. Er hatte das Licht weder in seinem hohen, halbdunklen Schlafzimmer noch im Wohnzimmer eingeschaltet, das er in den drei Jahren, seit er hier wohnte, noch nicht möbliert hatte, weil er nicht dazu gekommen war. Dorthin ging er jetzt. Die Fenster boten Ausblick auf Lichter und den Fluß, es roch nach Staub und Frühlingsanfang. Das Zimmer enthielt einen holzgetäfelten offenen Kamin, ein altes Klavier, dem acht Tasten aus Elfenbein fehlten, neben dem Ofen einen Stapel Holzabfälle aus dem Sägewerk und einen fünfundzwanzig Zentimeter hohen wackeligen japanischem Bambustisch. Dunkelheit hüllte weich den kahlen Pinienholzboden ein, der weder poliert noch gefegt worden war.
George Orr legte sich der ganzen Länge nach mit dem Gesicht nach unten in dieser weichen Dunkelheit hin, so daß ihm der Geruch des staubigen Holzes in die Nase stieg und dessen harte Fläche seinem Körper Halt gab. Er lag vollkommen reglos, schlief jedoch nicht; er war anderswo als im Schlaf, tiefer, weiter draußen, an einem Ort, wo es keine Träume gab. Und er befand sich nicht zum erstenmal dort.
Als er aufstand, dann nur, um eine Chlorpromazintablette zu nehmen und ins Bett zu gehen. Haber versuchte es diese Woche mit Phenothiazinen bei ihm; sie schienen gut zu wirken, ließen ihn in die Phase des paradoxen Schlafs hinübergleiten, schwächten die Intensität der Träume jedoch so sehr ab, daß sie nie die wirkungsvolle Stufe erreichten. Das war prima, aber Haber sagte, daß die Wirkung nachlassen würde, wie bei allen anderen Medikamenten auch, bis sie überhaupt keine Wirkung mehr hätten. Nichts hindert einen Menschen am Träumen, sagte er, außer dem Tod.
In dieser Nacht jedenfalls schlief er tief, und wenn er träumte, waren die Träume flüchtig und ohne Gewicht. Er wachte samstags erst am späten Vormittag auf. Er ging zum Kühlschrank und sah hinein; dann genoß er den Anblick eine Weile. Es befanden sich mehr Lebensmittel darin, als er in seinem ganzen Leben in einem privaten Kühlschrank gesehen hatte. In seinem anderen Leben. Das er zwischen sieben Milliarden anderen geführt hatte in dem Nahrung stets knapp gewesen war. Wo ein Ei als Luxus des Monats galt — »Heute ovulieren wir!« pflegte seine Halbehefrau stets zu sagen, wenn sie ihre Eierration gekauft hatte … Sonderbar, in diesem Leben hatten sie keine Ehe auf Probe gehabt, er und Donna. Rechtlich gesehen gab es so etwas in den Jahren nach dem Schwarzen Tod gar nicht. Heute gab es nur die Vollehe. In Utah, wo die Geburtenrate immer noch niedriger lag als die Sterberate, versuchten sie sogar, aus religiösen und patriotischen Gründen die Vielweiberei wieder einzuführen. Aber er und Donna hatten diesmal überhaupt keine irgendwie geartete Ehe geführt, sie hatten nur zusammengelebt. Doch auch das war nicht von Dauer gewesen. Er konzentrierte sich wieder auf die Lebensmittel im Kühlschrank.
Er war nicht mehr der dünne, knochige Mann, der er in der Welt der sieben Milliarden gewesen war; tatsächlich sah er recht untersetzt aus. Dennoch verschlang er die Mahlzeit eines Verhungernden, eine enorme Mahlzeit — hartgekochte Eier, Toast mit Butter, Sardellen, Pökelfleisch, Sellerie, Käse, Walnüsse, ein Stück kalten Heilbutt mit Mayonnaise, Salat, rote Beete, Schokoladenkekse — was Kühlschrank und Vorratskammer hergaben. Nach dieser Orgie fühlte er sich körperlich gleich viel besser. Als er einen echten Kaffee trank, keinen Ersatzkaffee, dachte er an etwas, bei dem er sogar grinsen mußte. Er dachte: In diesem Leben, gestern, träumte ich einen Traum, der sechs Milliarden Menschen ausradierte und den Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte des letzten Vierteljahrhunderts veränderte. Aber in diesem Leben, das ich dann erschuf, habe ich keinen wirkungsvollen Traum geträumt; ich habe gar nichts verändert. Es ist die ganze Zeit so gewesen und ich hatte lediglich einen Alptraum über die Jahre des Schwarzen Todes. Mit mir ist alles in Ordnung; ich brauche keine Therapie.