So hatte er das noch nie gesehen, und es amüsierte ihn so, daß er grinsen mußte, allerdings kein besonders glückliches Grinsen.
Er wußte, er würde wieder träumen.
Es war schon nach zwei. Er spülte das Geschirr, fand seinen Regenmantel (echte Baumwolle, ein Luxus in dem anderen Leben) und machte sich zu Fuß auf zum Institut, ein Fußmarsch von zwei Meilen, der an der Universitätsklinik vorbei und, ein Stück weiter, in den Washington Park führte. Er hätte natürlich mit der Straßenbahn hinfahren können, aber die verkehrte nur sporadisch und unzuverlässig, und außerdem hatte er keine Eile. Es war angenehm, durch den warmen Märzregen und die ausgestorbenen Straßen zu gehen; die Bäume trieben Blätter, die Kastanien waren bereit, ihre Kerzen zu entzünden.
Der Zusammenbruch, die karzinome Seuche, die die Weltbevölkerung binnen eines Jahres um fünf Milliarden und in den nächsten zehn Jahren noch einmal um eine Milliarde Menschen reduziert hatte, hatte die Zivilisation der Welt bis in die Grundfesten erschüttert, sie am Ende aber doch unversehrt gelassen. Sie hatte nichts radikal verändert: nur quantitativ.
Die Luft war immer noch gründlich und irreparabel verpestet: diese Verschmutzung ging dem Zusammenbruch Jahrzehnte voraus, stellte sogar seine eigentliche Ursache dar. Heute gefährdete sie praktisch keinen mehr, außer den Neugeborenen. Der Schwarze Tod holte in seiner leukämieähnlichen Variante immer noch selektiv und umsichtig eines von vier Babys, die zur Welt kamen, und tötete es innerhalb von sechs Monaten. Alle, die überlebten, waren so gut wie immun gegen Krebs. Aber es gab andere Sorgen.
Unten am Fluß stieg kein Rauch aus den Fabrikschloten auf. Keine Autos verpesteten die Luft mit ihren Abgasen; die wenigen noch existierenden wurden mit Dampf oder Batterien betrieben.
Es gab auch keine Singvögel mehr.
Man konnte die Folgen der Seuche immer noch allerorten erkennen, sie selbst blieb nach wie vor virulent, und doch hatte sie nicht verhindern können, daß wieder ein Krieg ausbrach.Tatsächlich wurde im Nahen Osten erbitterter gekämpft als in der überbevölkerteren Welt. Die USA engagierten sich stark für die israelisch-ägyptische Seite und stellten Waffen, Munition, Flugzeuge und »militärische Berater« im Dutzend billiger zur Verfügung. China engagierte sich gleichermaßen stark für die iranisch-irakische Seite, hatte allerdings noch keine chinesischen Soldaten entsandt, nur Tibetaner, Nordkoreaner, Vietnamesen und Mongolen. Rußland und Indien hielten sich noch nervös aus allem heraus; aber jetzt, wo Afghanistan und Brasilien sich mit dem Iran verbündeten, schien es denkbar, daß sich Pakistan auf die Seite der Isrägypter stellte. In dem Fall würde Indien Panik bekommen und ein Bündnis mit China eingehen, was der UdSSR soviel Kopfzerbrechen bereiten könnte, daß sie sich auf die Seite der USA stellte. Damit wären insgesamt zwölf Atommächte im Spiel, sechs auf jeder Seite. Dies waren die Spekulationen. Derweil lag Jerusalem in Schutt und Asche, während die Zivilbevölkerung in Saudiarabien und dem Irak zusammengepfercht in unterirdischen Bunkern hauste, Panzer und Flugzeuge Feuer in der Luft und Cholera im Wasser verbreiteten und Babys von Napalm geblendet aus den Bunkern krabbelten.
In Johannesburg wurden immer noch Weiße abgeschlachtet, konnte Orr einer Schlagzeile am Zeitungskiosk an der Ecke entnehmen. Jahre waren seit dem Aufstand vergangen, und es gab in Südafrika immer noch Weiße, die man abschlachten konnte! Die Menschen sind zäh …
Der Regen fiel warm, verseucht, sanft auf seinen entblößten Kopf, während er die grauen Hügel von Portland erklomm.
Im Sprechzimmer mit dem großen Eckfenster, das Aussicht auf den Regen bot, sagte er: »Bitte hören Sie auf damit, mit meinen Träumen etwas zu verbessern, Dr. Haber. Das funktioniert nicht. Es ist falsch. Ich möchte geheilt werden.«
»Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine Heilung, George! Daß Sie es wollen.«
»Das ist keine Antwort.«
Aber der große Mann glich einer Zwiebel, schälte Schale für Schale Persönlichkeit, Glauben, Verantwortung ab, unendlich viele Schalen, ohne Ende, er hatte kein Zentrum. Niemals hielt er an, mußte anhalten, sagte: Hier bleibe ich! Kein Wesen, nur Schalen.
»Sie benutzen meine wirkungsvollen Träume, um die Welt zu verändern. Nur mir gegenüber geben Sie nicht zu, daß Sie das machen. Warum nicht?«
»George, Sie müssen sich vergegenwärtigen, daß Sie Fragen stellen, die von Ihrem Standpunkt aus vernünftig erscheinen mögen, von meinem Standpunkt aus jedoch buchstäblich nicht zu beantworten sind. Wir sehen die Realität auf unterschiedliche Weise.«
»Aber wenigstens soweit identisch, daß wir uns unterhalten können.«
»Ja. Zum Glück. Aber dennoch können wir nicht immer fragen und antworten. Noch nicht.«
»Ich kann Ihre Fragen beantworten und beantworte sie auch … Jedenfalls: Hören Sie mir zu. Sie können nicht damit weitermachen, alles zu verändern, sich zum Leiter aufzuschwingen.«
»Bei Ihnen hört sich das an, als wäre es ein allgemeiner moralischer Imperativ.« Er sah Orr mit einem jovialen, väterlichen Lächeln an und strich sich über den Bart. »Aber ist das nicht tatsächlich gerade der Sinn des Menschen auf Erden — etwas zu schaffen, zu verändern, zu leiten, eine bessere Welt zu schaffen?«
»Nein!«
»Was ist dann sein Sinn?«
»Ich weiß nicht. Die Dinge haben keinen Sinn, als wäre das Universum eine Maschine, wo jedes Teil eine nützliche Funktion hat. Was ist der Sinn einer Galaxie? Ich weiß nicht, ob unser Leben einen Sinn hat, und ich sehe auch nicht, daß das wichtig wäre. Wichtig ist, daß wir ein Teil sind. Wie ein Faden in einem Tuch oder ein Grashalm auf einer Wiese. Es ist und wir sind. Und unsere Taten sind wie Wind, der über das Gras weht.«
Es folgte eine kurze Pause, und als Haber antwortete, klang seine Stimme nicht mehr jovial, tröstlich oder ermutigend. Sie klang neutral, mit einer gerade noch erkennbaren Spur von Geringschätzung.
»Sie haben eine seltsam passive Anschauung für einen Mann, der im jüdisch-christlich-rationalistischen Westen aufgewachsen ist. Eine Art von natürlichem Buddhismus. Haben Sie jemals die fernöstliche Mystik studiert, George?« Die letzte Frage mit ihrer offenkundigen Antwort stellte eine offene Verhöhnung dar.
»Nein. Ich weiß nichts darüber. Aber ich weiß, es ist falsch, Zwang auf das Muster des Daseins auszuüben. Das geht einfach nicht. Das ist seit Jahrhunderten unser Fehler. Begreifen Sie, begreifen Sie denn nicht, was gestern passiert ist?«
Die milchigen dunklen Augen sahen direkt in seine.
»Was ist gestern passiert, George?«
Kein Ausweg. Kein Ausweg.
Inzwischen benutzte Haber Natriumpentothal, um seinen Widerstand gegen den Hypnosevorgang zu reduzieren. George fügte sich und sah die Nadel nach einem Augenblick des Schmerzes in seine Ader gleiten. Das war der Weg, den er gehen mußte; er hatte keine andere Wahl. Er hatte nie eine Wahl gehabt. Er war nur ein Träumer.
Haber ging irgendwo hin, irgendwas erledigen, während das Medikament seine Wirkung entfaltete; aber nach fünfzehn Minuten stand er prompt wieder da, polternd, jovial und unbekümmert. »Also gut! Legen wir los, George!«
Orr wußte schmerzhaft deutlich, womit er heute loslegen würde: mit dem Krieg. Die Zeitungen berichteten über nichts anderes mehr; nicht einmal der Nachrichten-resistente Orr hatte sich dem Thema auf dem Weg hierher entziehen können. Der eskalierende Krieg im Nahen Osten. Haber würde ihn beenden. Und das Morden in Afrika zweifellos auch. Denn Haber war ein gütiger Mensch. Er wollte die Welt für die Menschen verbessern.