Haber sagte nichts und ließ keinerlei Reaktion erkennen, daher fuhr Orr fort.
»Oder vielleicht ist es nicht nur mein unterbewußter, irrationaler Verstand, vielleicht ist es mein ganzes Ich, mein gesamtes Wesen, das für den Job einfach nicht geeignet ist. Ich bin vielleicht zu defätistisch, oder zu passiv, wie Sie gesagt haben. Ich besitze nicht genügend Begierden. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, daß ich diese — diese Gabe besitze, wirkungsvoll zu träumen; und wenn nicht, gibt es möglicherweise andere, die es können, Menschen mit einem Verstand, der mehr so wie Ihrer funktioniert, mit denen Sie besser zusammenarbeiten können. Sie können doch Tests durchführen; ich kann nicht der einzige sein; vielleicht bin ich nur der einzige, dem es bewußt geworden ist. Aber ich will es nicht machen. Ich will weg vom Haken. Ich ertrage es nicht. Ich meine, sehen Sie doch her: der Krieg im Nahen Osten ist seit sechs Jahren beendet, gut und schön, aber jetzt sitzen die Außerirdischen auf dem Mond. Was ist, wenn sie landen? Was für Ungeheuer haben Sie im Namen des Friedens aus meinem Unterbewußtsein heraufbeschworen? Ich weiß es nicht einmal!«
»Niemand weiß, wie die Außerirdischen aussehen, George«, sagte Haber in einem vernünftigen, beschwichtigenden Tonfall. »Wir hatten alle ihretwegen unsere Alpträume, weiß Gott! Aber wie Sie sagten, ihre erste Landung auf dem Mond ist jetzt sechs Jahre her, und sie haben es noch nicht bis zur Erde geschafft. Mittlerweile sind unsere Raketenabwehrsysteme höchst wirkungsvoll. Wenn sie es bis jetzt nicht geschafft haben, besteht kein Grund zu der Annahme, daß sie durchbrechen können. Diese ersten paar Monate, bevor die Verteidigung auf der Basis internationaler Zusammenarbeit organisiert wurde, das war die Gefahrenperiode.«
Orr saß eine Weile mit hängenden Schultern da. »Lügner!« wollte er Haber anbrüllen, »warum lügst du mich an?« Aber der Wunsch war nicht besonders ausgeprägt. Es führte zu nichts. Möglicherweise war Haber gar nicht fähig, die Wahrheit zu sagen, weil er sich selbst belog. Vielleicht unterteilte er seinen Verstand in zwei hermetische Hälften: In einer wußte er, daß Orrs Träume die Realität veränderten, und nutzte das für seine Zwecke; in der anderen wußte er, daß er Hypnosetherapie und Traum-Abreaktionen anwandte, um einen schizoiden Patienten zu heilen, der glaubte, daß seine Träume die Realität veränderten.
Daß Habers interne Kommunikation solchermaßen außer Kontrolle geraten sein könnte, fiel Orr schwer zu glauben; sein eigener Verstand war so resistent gegen derartige Unterteilungen, daß er sie bei anderen nur schwer erkannte. Aber er hatte gelernt, daß es sie gab. Er war in einem Land aufgewachsen, in dem Politiker Piloten losschickten, um Jagdbomber zu bemannen, um Babys zu töten, um die Welt so sicher zu machen, daß Kinder darin aufwachsen konnten.
Aber das war jetzt in der alten Welt gewesen. Nicht in der schönen neuen Welt.
»Ich drehe durch«, sagte er. »Das müssen Sie doch sehen. Sie sind Psychiater. Sehen Sie denn nicht, daß ich außer Rand und Band bin? Außerirdische aus dem Weltraum, die die Erde angreifen: Wenn Sie mich wieder auffordern, zu träumen, was werden Sie dann bekommen? Vielleicht eine vollkommen wahnsinnige Welt, das Produkt eines wahnsinnigen Verstandes. Ungeheuer, Gespenster, Hexen, Drachen, Verwandlungen — alles, was wir in uns herumschleppen, alle Schrecken unserer Kindheit, die nächtlichen Ängste, die Alpträume. Wie wollen Sie verhindern daß das alles freigesetzt wird? Ich kann es nicht verhindern. Ich habe keine Kontrolle darüber.«
»Machen Sie sich keine Sorgen über Kontrolle! Sie arbeiten auf die Freiheit hin«, sagte Haber mit Gusto. »Freiheit! Ihr Unterbewußtsein ist kein Sumpf der Schrecken und Laster. Das ist eine viktorianische Vorstellung, und eine schrecklich destruktive obendrein. Sie schadete den größten Geistern des neunzehnten Jahrhunderts und rückte die Psychologie in der gesamten ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in ein schiefes Licht. Haben Sie keine Angst vor Ihrem Unterbewußtsein! Es ist keine schwarze Grube voller Alpträume. Nichts dergleichen! Es ist eine Quelle von Gesundheit, Phantasie, Kreativität. Was wir das ›Böse‹ nennen, wird von der Zivilisation hervorgebracht, ihren Zwängen und Repressionen, die den spontanen, freien Ausdruck der Persönlichkeit deformieren. Das Ziel der Psychotherapie ist ja gerade eben, diese unbegründeten Ängste und Alpträume zu entfernen, das Unbewußte ins Licht des rationalen Bewußtseins zu holen, es objektiv zu untersuchen und festzustellen, daß es nichts zu fürchten gibt.«
»Aber es gibt etwas zu fürchten« sagte Orr sehr leise.
Haber ließ ihn schließlich gehen. Er trat in die frühlingshafte Dämmerung hinaus, blieb eine Minute mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen auf der Treppe des Instituts stehen, betrachtete die Straßenlaternen unten in der Stadt, die Nebel und abendliches Zwielicht so einhüllten, daß sie zu funkeln und sich zu bewegen schienen wie die winzigen, silbernen Umrisse tropischer Fische in einem dunklen Aquarium. Eine Seilbahn fuhr rasselnd den steilen Hang herauf zu ihrem Wendepunkt oberhalb des Washington Park, vor dem Institut. Er trat auf die Straße hinaus und erklomm den Wagen, während er wendete. Sein Gang war forsch und dennoch ziellos. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler, wie unter Zwang.
7
Tagtraum, der sich zum Denken verhält wie der Spiralnebel zum Stern, grenzt an den Schlaf und erforscht diese Grenze. Eine von lebendigen Transparenzen bewohnte Atmosphäre: der Beginn des Unbekannten. Doch dahinter tut sich unermeßlich das Mögliche auf. Andere Wesen, andere Fakten sind da. Nicht das Übernatürliche, nur die okkulte Fortsetzung der unendlichen Natur … Schlaf steht in Verbindung mit dem Möglichen, das wir auch das Unwahrscheinliche nennen. Die Welt der Nacht ist eine Welt. Nacht, als Nacht, ist ein Universum … Die dunklen Dinge der unbekannten Welt werden Nachbarn des Menschen, ob durch wahre Kommunikation oder eine visionäre Vergrößerung der Entfernungen des Abgrunds … und der Schläfer, der nicht ganz sieht, nicht ganz bei Bewußtsein ist, erblickt fremde Fauna, unheimliche Vegetationen, schreckliche oder strahlende Blässe, Gespenster, Masken, Gestalten, Hydren, Verwirrungen, Mondschein ohne Mond, obskure Vernichtung von Wundern, Wachstum und Vergehen in einer trüben Tiefe, im Schatten schwebende Formen, das ganze Mysterium, das wir Träumen nennen und das nichts anderes ist als das Näherrücken einer unsichtbaren Realität. Der Traum ist das Aquarium der Nacht.
Am dreißigsten März um 14:10 Uhr konnte man Heather Lelache sehen, wie sie Dave’s Fine Foods in der Ankeny Street verließ und mit einer großen schwarzen Handtasche mit Messingverschluß und einem Regenmantel aus rotem Vinyl angetan auf der Fourth Avenue nach Süden ging. Hütet euch vor dieser Frau. Sie ist gefährlich.
Nicht, daß ihr besonders viel daran gelegen häte, diesen armseligen, verdammten Psychopathen zu sehen, aber, Scheiße, sie stand nicht gern wie eine Idiotin vor Kellnern da. Besetzte mitten im dicksten Mittagstrubei eine halbe Stunde lang einen Tisch — »Ich warte auf jemanden.« — »Tut mir leid, ich warte auf jemanden.« — und es kommt niemand und es kommt niemand, und so mußte sie schließlich bestellen und das Zeug in großer Hast hinunterschlingen, und jetzt würde sie Sodbrennen bekommen. Zusätzlich zu Zorn, Verbitterung und gekränkter Eitelkeit. Oh, die Geschlechtskrankheiten der Seele.
Sie bog nach links in die Morrison Street ein und blieb unvermittelt stehen. Was hatte sie hier verloren? Das war nicht der Weg zu Forman, Esserbeck und Rutti. Hastig kehrte sie mehrere Straßenblocks nach Norden zurück, überquerte die Ankeny, kam zur Burnside und blieb wieder stehen. Was, zum Teufel, wollte sie hier?