Sie ging zu dem umgebauten Parkhaus 209 S. W. Burnside. Welches umgebaute Parkhaus? Ihr Büro befand sich im Pendleton Building, Portlands erstem Bürohochhaus nach dem Zusammenbruch, in der Morrison. Fünfzehn Stockwerke, Neo-Inka-Stil. Was für ein umgebautes Parkhaus, wer, zum Teufel, arbeitete in einem umgebauten Parkhaus?
Sie ging weiter die Burnside hinab und sah sich um. Tatsächlich, da war es. Ringsum von Zutritt-Verboten-Schildern umgeben.
Ihr Büro lag da oben im dritten Stock.
Während sie auf dem Bürgersteig stand und an dem leerstehenden Gebäude mit den merkwürdigen, leicht schrägen Stockwerken und schmalen Fensterscharten hinaufsah, fühlte sie sich wahrlich seltsam. Was war vergangenen Freitag während der psychiatrischen Sitzung tatsächlich vor sich gegangen?
Sie mußte den kleinen Pisser wiedersehen. Mr. Orr, sieh dich vorr. Er hatte sie beim Mittagessen versetzt, na und, sie hatte trotzdem noch ein paar Fragen an ihn. Sie schritt nach Süden aus, klick, klack, und mit den Scheren schnappend, zum Pendleton Building, und rief ihn von ihrem Büro aus an. Zuerst bei Bradford Industries (nein, Mr. Orr hat sich heute nicht sehen lassen, nein, er hat auch nicht angerufen), dann in seiner Residenz (Rring. Rring. Rring).
Vielleicht sollte sie wieder Dr. Haber anrufen. Aber der war so eine große Nummer als Leiter seines Palasts der Träume dort droben auf dem Hügel. Und überhaupt, was dachte sie sich eigentlich? Haber sollte nicht wissen, daß Orr kein Unbekannter für sie war. Wenn ein Lügner eine Grube gräbt, fällt er mit seinen kurzen Beinen selbst hinein. Eine Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verfängt.
An diesem Abend ging Orr weder um sieben noch um neun, noch um elf Uhr ans Telefon. Am Dienstagmorgen arbeitete er nicht, und am Dienstagnachmittag um vierzehn Uhr auch nicht. Um sechzehn Uhr dreißig verließ Heather Lelache die Kanzlei von Forman, Esserbeck und Rutti, fuhr mit der Straßenbahn zur Whiteaker Street, ging den Hügel hinauf zur Corbett Avenue, fand das Haus, läutete an der Tür: einer von sechs schon unendlich oft gedrückten Klingelknöpfen in einer abgegriffenen kurzen Reihe am abblätternden Rahmen der Ornamentglastür eines Hauses, das 1905 oder 1892 jemandes ganzer Stolz gewesen war, seither jedoch harte Zeiten durchgemacht hatte, aber gefaßt und mit einer gewissen schäbigen Würde dem Verfall entgegendämmerte. Keine Reaktion, als sie Orrs Klingel betätigte. Sie läutete bei M. Ahrens, Hausmeister. Zweimal. Hausmeister kam, reagierte zuerst recht unwillig. Aber wenn die Schwarze Witwe eines beherrschte, dann war es, Insekten einzuschüchtern, die in der Nahrungskette unter ihr standen. Hausmeister ging mit ihr nach oben und versuchte sein Glück an Orrs Tür. Die Tür ging auf. Er hatte sie nicht abgeschlossen gehabt.
Sie wich einen Schritt zurück. Urplötzlich argwöhnte sie, daß drinnen ein Toter liegen könnte. Und es war nicht ihre Wohnung.
Hausmeister scherte sich wenig um Privateigentum, marschierte hinein, und sie folgte ihm widerstrebend.
Die großen, alten und kargen Zimmer machten einen düsteren und unbenutzten Eindruck. Es kam ihr albern vor, daß sie gleich an den Tod gedacht hatte. Orr besaß nicht viel; sie sah weder die Schlampigkeit eines Junggesellen noch die penible Ordentlichkeit eines Junggesellen. Seine Persönlichkeit spiegelte sich in diesen Räumen kaum wider, und dennoch sah sie ihn hier wohnen, einen unauffälligen Mann, der ein unauffälliges Leben führte. Auf dem Tisch im Schlafzimmer stand ein Glas Wasser mit einem Strauß Heidekraut darin. Das Wasser war bis etwa zu einem Viertel des Glases verdunstet.
»Weesnich, wo er hinnegangen is«, sagte Hausmeister schroff und sah sie hilfesuchend an. »Glaumse, er hat n Unfall gehabt? So was?« Hausmeister trug noch die schaffellgefütterte Wildlederjacke mit Fransen, die Haartracht und das Wassermann-Symbol seiner Jugend: anscheinend hatte er die Kleidung seit dreißig Jahren nicht mehr gewechselt. Er sprach mit einem vorwurfsvollen Dylan-Näseln. Er roch sogar nach Marihuana. Einmal Hippie, immer Hippie.
Heather sah ihn freundlich an, denn sein Geruch erinnerte sie an ihre Mutter. »Vielleicht besucht er sein Ferienhaus an der Küste. Es ist nur so, ihm geht es nicht besonders gut, er befindet sich in staatlicher Therapie. Er bekommt Schwierigkeiten, wenn er dort nicht erscheint. Wissen Sie, wo diese Blockhütte liegt und ob er dort Telefon hat?«
»Weesnich.«
»Kann ich Ihr Telefon benutzen?«
»Nehmse seins«, sagte Hausmeister achselzuckend.
Sie rief einen Freund an, der bei der Verwaltung der Nationalparks von Oregon arbeitete, ließ ihn die vierunddreißig Blockhütten im Siuslaw-Nationalpark nachschlagen, die verlost worden waren, und sich den Weg beschreiben. Hausmeister hing herum und hörte mit, und als sie fertig war, sagte er: »Beziehungen, hm?«
»Kann ganz hilfreich sein«, antwortete die Schwarze Witwe klickernd.
»Hoffentlich finden Sie George. Ich mag den Bruder. Leiht sich meine Pharmaziekarte aus«, sagte Hausmeister und stieß unvermittelt ein schnaubendes Lachen aus, das sofort wieder verstummte. Als sich Heather verabschiedete, lehnte er mürrisch am abblätternden Rahmen der Eingangstür, wo er und das alte Haus einander gegenseitig Halt gaben.
Heather fuhr mit der Straßenbahn in die Innenstadt, mietete bei Hertz einen Ford Steamer und fuhr auf der 99-W los. Sie fand Gefallen daran. Die Schwarze Witwe verfolgt ihre Beute. Warum war sie nicht Privatdetektivin geworden, statt eine gottverdammte dumme drittklassige Anwältin für Zivilrecht? Sie haßte die Juristerei. Man brauchte eine aggressive, rechthaberische Persönlichkeit dafür. Die hatte sie nicht. Sie hatte eine verstohlene, listige, schüchterne, schuppenartige Persönlichkeit. Sie hatte die Geschlechtskrankheiten der Seele.
Der Kleinwagen hatte die Stadt bald hinter sich gelassen, denn der Vorortstreifen, der sich einst meilenweit an den westlichen Highways entlang erstreckt hatte, existierte nicht mehr. In den achtziger Jahren, den Jahren des Schwarzen Todes, als in manchen Gebieten nicht ein Mensch von zwanzig am Leben blieb, waren die Vororte keine gute Gegend gewesen. Meilen vom Supermarkt entfernt, kein Benzin für das Auto, und die Doppelhaushälften im Rancherstil um dich herum voll von Toten. Keine Hilfe, kein Essen. Rudel halbwilder Hunde, ehedem Statussymbole — Windhunde, deutsche Schäferhunde, Bernhardiner —, streunten über die von Kletten und Kreuzkraut überwucherten Rasenflächen. Geborstene Panoramafenster. Wer sollte auch kommen und das in die Brüche gegangene Glas ersetzen? Die Menschen hatten sich in den alten Stadtkern zurückgezogen; und nachdem die Vororte geplündert waren, brannten sie. Wie Moskau 1812, Strafe Gottes oder Vandalismus: sie wurden nicht mehr gebraucht, darum brannten sie. Afterkreuzkraut, aus dem Bienen den köstlichsten Honig von allen machen, wuchs Hektar über Hektar dort, wo Kensington Homes West, Sylvan Oak Manor Estates und Valley Vista Park gewesen waren.
Die Sonne ging unter, als sie den Fluß Tualatin überquerte, der reglos wie Seide zwischen steilen, bewaldeten Ufern lag. Nach einer Weile ging der Mond auf, fast voll und gelb zu ihrer linken, da die Straße nach Süden führte. Sie reagierte besorgt, wenn sie ihn in Kurven über die Schulter betrachtete. Blickwechsel mit dem Mond waren nicht mehr angenehm. Er verkörperte nicht mehr das Unerreichbare, wie Jahrtausende lang, und auch nicht mehr das Errungene, wie in den vergangenen wenigen Jahrzehnten, sondern das Verlorene. Eine gestohlene Münze, die Mündung der eigenen Waffe, die auf einen selbst gerichtet wurde, ein rundes Loch im Gewebe des Himmels. Die Außerirdischen hielten den Mond besetzt. Ihr erster aggressiver Akt — durch den die Menschheit zum erstenmal auf ihre Anwesenheit im Sonnensystem aufmerksam wurde —, war der Angriff auf die Mondbasis und die schreckliche Ermordung der vierzig in der Kuppel stationierten Männer durch Ersticken gewesen. Und am selben Tag, zur selben Stunde, hatten sie die russische Raumstation zerstört, dieses seltsame, schöne, einem Distelsamen nicht unähnliche Gebilde in der Erdumlaufbahn, das den Russen als Sprungbrett zum Mars dienen sollte. Kaum zehn Jahre nach dem Abklingen der Seuche war die ruinierte Zivilisation der Menschheit wie Phönix aus der Asche auferstanden und hatte den Orbit, den Mond, den Mars erobert: und war auf das gestoßen. Formlose, sprachlose, grundlose Brutalität. Der einfältige Haß des Universums.