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Die Straßen wurden nicht mehr so gut in Schuß gehalten wie damals, als der Highway noch König gewesen war; es gab unebene Stellen und Schlaglöcher. Aber Heather beschleunigte manchmal bis hart ans Tempolimit (70 kmh), während sie durch das breite Tal im Mondenschein fuhr, den Fluß Yamhill viermal überquerte, oder waren es fünf, passierte Dundee und Grand Ronde, ersteres ein bewohntes Dorf, letzteres eine Geisterstadt, so ausgestorben wie Karnak, und kam schließlich in die Berge, die Wälder. Van Duzer Waldstreifen, ein uraltes Straßenschild aus Holz: Land, das schon beizeiten vor dem Zugriff der Sägewerke gerettet worden war. Nicht alle Wälder Amerikas waren für Einkaufstüten, Holzhäuser und Dick Tracy am Sonntagmorgen geopfert worden. Ein paar gab es noch. Eine Abzweigung nach rechts: Siuslaw-Nationalpark. Und keine gottverdammte Baumschule, die nur aus Stümpfen und kümmerlichen Sprößlingen bestanden hätte. Riesige Schierlingstannen schwarz vor dem mondhellen Himmel.

Das Schild, das sie suchte, konnte man in der verästelten und farnigen Dunkelheit, die das fahle Licht der Autoscheinwerfer verschluckte, kaum erkennen. Sie bog abermals ab und holperte etwa eine Meile lang in Fahrrinnen und über Unebenheiten dahin, bis sie die erste Blockhütte sah, Mondlicht auf einem Schindeldach. Es war kurz nach acht Uhr.

Sie standen auf Parzellen, zehn bis zwölf Meter Abstand dazwischen; wenige Bäume waren geopfert worden, aber das Unterholz gelichtet, und als sie das Muster begriffen hatte, konnte sie die kleinen Dächer im Mondschein sehen, und auf der anderen Seite des Bachs eine entsprechende Anlage. Nur in einer der Hütten war ein Fenster erleuchtet. Ein Dienstagabend im Vorfrühling: nicht viele Feriengäste. Als sie die Autotür öffnete, registrierte sie erstaunt, wie laut der Bach tönte, ein kräftiges, unablässiges Rauschen. Ewige und unerschütterliche Lobpreisung! Sie fand den Weg zu der erleuchteten Blockhütte, stolperte nur zweimal in der Dunkelheit und betrachtete das Auto, das davor stand: ein Batteriewagen von Hertz. Na klar. Aber wenn nicht? Es könnte ein Fremder sein. Na ja, Scheiße, die würden sie nicht gleich fressen, oder? Sie klopfte.

Nach einer Weile klopfte Heather leise fluchend noch einmal. — Der Bach rauschte lautstark, der Wald hielt den Atem an.

Orr machte die Tür auf. Sein Haar hing strähnig und lockig herab, die Augen blickten blutunterlaufen, seine Lippen waren trocken. Er schaute sie blinzelnd an. Er sah verkommen und verwirrt aus. Sie hatte Todesangst vor ihm. »Sind Sie krank?« fragte sie schneidend.

»Nein, ich … Kommen Sie rein …«

Sie mußte eintreten. Zu dem Franklin-Ofen gehörte ein Schürhaken: damit konnte sie sich verteidigen. Natürlich konnte er auch sie damit angreifen, wenn er zuerst hinkam.

Oh, um Himmels willen, sie war fast so groß wie er und viel besser in Form. Feigling, Feigling. »Sind Sie high?«

»Nein, ich …«

»Sie was? Was ist los mit Ihnen?«

»Ich kann nicht schlafen.«

Die winzige Blockhütte roch herrlich nach Holzrauch und frischem Holz. Das Mobiliar bestand aus dem Franklin-Ofen mit zwei Kochplatten, einer Kiste voller Erlenscheite, einem Schrank, einem Tisch, einem Stuhl, einer Armeepritsche. »Setzen Sie sich«, sagte Heather. »Sie sehen schrecklich aus. Brauchen Sie was zu trinken oder einen Arzt? Ich habe Brandy im Auto. Oder kommen Sie besser mit mir, wir suchen in Lincoln City einen Arzt.«

»Mir geht es gut. Es ist nur murmel murmel müde.«

»Sie sagten, Sie können nicht schlafen.«

Er sah sie mit roten, gereizten Augen an. »Darf nicht. Habe Angst davor.«

»Oh Gott. Wie lange geht das schon so?«

»Murmel murmel Sonntag.«

»Sie haben seit Sonntag nicht mehr geschlafen?«

»Samstag?« sagte er fragend.

»Haben Sie was genommen? Hallowachtabletten?«

Er schüttelte den Kopf. »Hin und wieder bin ich kurz eingeschlafen«, sagte er einigermaßen deutlich, dann schien er einen Moment einzuschlafen, als wäre er neunzig. Doch dann wachte er unfaßbarerweise vor ihren Augen wieder auf und fuhr wie hellwach fort. »Sind Sie wegen mir hergekommen?«

»Weswegen sonst? Um Weihnachtsbäume zu fällen, Herrgott noch mal? Sie haben mich gestern beim Mittagessen versetzt.«

»Oh.« Er machte große Augen und versuchte offenkundig, sie zu sehen. »Tut mir leid«, sagte er, »ich bin nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.«

Als er das sagte, war er plötzlich wieder ganz der Alte, trotz seiner wirren Haare und Augen: ein Mann, dessen persönliche Würde so tief reichte, daß sie beinahe unsichtbar war.

»Schon gut. Mir egal! Aber Sie schwänzen die Therapie — oder nicht?«

Er nickte. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« fragte er. Es war mehr als nur Würde. Integrität? Ganzheit? Wie ein Holzklotz, an dem noch niemand herumgeschnitzt hatte.

Die unendliche Möglichkeit, die unbegrenzte und untaugliche Ganzheit des Daseins des Unbeteiligten, des Nicht-Handelnden, des Ungeschnitzten: das Wesen, das, da es nichts ist als es selbst, alles ist.

Ganz kurz sah sie ihn so, und was sie an dieser Einsicht am meisten in Erstaunen setzte, war seine Stärke. Er war die stärkste Persönlichkeit, die sie je kennengelernt hatte, weil er nicht aus dem Zentrum entfernt werden konnte. Und darum mochte sie ihn. Sie fühlte sich zu Stärke hingezogen und folgte ihr wie die Motte dem Licht. Sie hatte als Kind viel Liebe erfahren, aber niemals Stärke, hatte niemals jemanden gehabt, auf den sie sich verlassen konnte: die Leute verließen sich auf sie. Dreißig Jahre hatte sie sich danach gesehnt, jemanden kennenzulernen, der sich nicht auf sie verließ, es nie würde, es nicht konnte …

Hier war er, kleinwüchsig, mit blutunterlaufenen Augen, psychotisch und in einem Versteck, ihr Fels in der Brandung.

Das Leben ist ein unglaubliches Schlamassel, dachte Heather. Man kann nie erraten, was als nächstes kommt. Sie zog den Mantel aus, während Orr eine Tasse aus dem Regalfach und Dosenmilch aus dem Schrank holte. Er brachte ihr eine Tasse starken Kaffee: 97 Prozent Koffein, 3 Prozent ohne.

»Für Sie keinen?«

»Hab schon zuviel getrunken. Ich bekomme Sodbrennen davon.«

Da verfiel sie ihm mit ganzem Herzen.

»Vielleicht einen Brandy?«

Er sah sie sehnsuchtsvoll an.

»Davon schlafen Sie nicht ein. Bringt Sie etwas auf Vordermann. Ich geh ihn holen.«

Er beleuchtete ihr den Weg zum Auto mit einer Taschenlampe. Der Bach rauschte, die Bäume verharrten schweigend, der Mond schien am Himmel — der Mond der Außerirdischen.

Wieder in der Hütte, schenkte Orr eine bescheidene Dosis des Brandy ein und kostete. Er erschauerte. »Das ist gut«, sagte er und trank das Glas leer.

Sie betrachtete ihn wohlwollend. »Ich habe immer ein Fläschchen bei mir«, sagte sie. »Ich hatte sie im Handschuhfach verstaut, denn wenn mich die Bullen angehalten hätten und ich meinen Führerschein hätte vorzeigen müssen, hätte sie in meiner Handtasche irgendwie merkwürdig ausgesehen. Sonst trage ich sie meistens bei mir. Komisch, ein-, zweimal im Jahr kommt sie wirklich gerade recht.«

»Darum haben Sie immer so eine große Handtasche dabei«, sagte Orr mit Brandystimme.

»Verdammt richtig! Ich glaube, ich gieße einen Schluck in meinen Kaffee. Vielleicht wird er dadurch etwas schwächer.« Sie füllte gleichzeitig sein Glas nach. »Wie haben Sie es geschafft, sechzig oder siebzig Stunden wach zu bleiben?«