»Ganz habe ich es nicht geschafft. Ich habe mich einfach nicht hingelegt. Man kann im Sitzen ein wenig schlafen, aber träumen kann man nicht richtig. Man muß liegen, um in die Traumschlafphase zu gelangen, damit sich die Muskeln entspannen können. Hab ich in Büchern gelesen. Das klappt ganz gut. Ich hatte noch keinen richtigen Traum. Wenn man sich nicht entspannen kann, wacht man wieder auf. Und in letzter Zeit bekam ich so eine Art Halluzinationen. Als würde etwas in den Wänden herumwuseln.«
»Sie können so nicht weitermachen.«
»Nein. Ich weiß. Aber ich mußte einfach weg. Von Haber.«
Eine Pause. Er schien wieder eine Phase der Benommenheit zu erleben. Dann lachte er auf eine recht alberne Weise. »Die einzige Lösung, die ich wirklich sehe«, sagte er, »wäre Selbstmord zu begehen. Aber das will ich nicht. Es scheint mir einfach nicht richtig zu sein.«
»Natürlich ist es nicht richtig!«
»Aber ich muß es irgendwie beenden. Jemand muß mich aufhalten.«
Sie konnte ihm nicht folgen und wollte es auch nicht. »Das ist ein hübsches Plätzchen«, sagte sie. »Ich habe seit zwanzig Jahren keinen Holzrauch mehr gerochen.«
»Verpestet die Luft«, sagte er und lächelte kläglich. Er schien völlig im Eimer zu sein, aber ihr fiel auf, daß er sich kerzengerade in einer aufrecht sitzenden Haltung auf der Pritsche hielt und sich nicht einmal an der Wand anlehnte. Er blinzelte mehrmals. »Als Sie angeklopft haben«, sagte er, »dachte ich, es wäre ein Traum. Darum murmel murmel aufgemacht.«
»Sie haben gesagt, daß Sie sich diese Hütte geträumt haben. Ziemlich bescheiden für einen Traum. Warum haben Sie sich nicht ein Chalet am Strand von Salishan oder ein Schloß auf Kap Perpetua geträumt?«
Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Mehr wollte ich nicht.« Nach abermaligem Blinzeln fuhr er fort: »Was ist passiert. Was ist mit Ihnen passiert. Freitag. In Habers Büro. Die Sitzung.«
»Ich bin gekommen, um Sie das zu fragen.«
Das machte ihn wach. »Sie haben bemerkt —«
»Kann sein. Ich meine, ich weiß, daß etwas passiert ist. Seither versuche ich, mit einem Satz Reifen auf zwei verschiedenen Straßen zu fahren. Am Sonntag bin ich in meinem eigenen Apartment gegen die Wand gelaufen! Sehen Sie?« Sie zeigte ihm einen Bluterguß, fast schwarz unter brauner Haut, auf ihrer Stirn. »Die Mauer war jetzt da, aber sie war vorher nicht da gewesen … Wie können Sie damit leben, daß das andauernd so ist? Wie merken Sie sich, wo sich etwas befindet?«
»Gar nicht«, sagte Orr. »Ich bringe alles durcheinander. Wenn es schon passieren soll, dann soll es ganz sicher nicht so oft passieren. Es ist zuviel. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob ich den Verstand verliere oder nur die widersprüchlichen Informationen nicht mehr verarbeiten kann. Ich … es … Sie meinen, Sie glauben mir wirklich?«
»Was bleibt mir anderes übrig? Ich habe gesehen, was mit der Stadt passiert ist! Ich habe zum Fenster hinausgeschaut! Sie müssen nicht denken, daß ich es glauben will. Das will ich nicht, ich versuche, es nicht zu tun. Herrgott, es ist schrecklich. Aber dieser Dr. Haber, der wollte auch nicht, daß ich es glaube, richtig? Er hat mich regelrecht belabert. Aber dann, was Sie beim Aufwachen sagten; und als ich gegen Wände lief und zum falschen Büro gehen wollte … Und dann frage ich mich: Hat er seit Freitag wieder etwas geträumt, ist wieder alles anders geworden, aber ich weiß es nicht, weil ich nicht dabei gewesen bin, und ich frage mich, was sich alles verändert haben könnte und ob überhaupt noch irgend etwas real ist. Oh, Scheiße, es ist schrecklich.«
»So ist es. Hören Sie, Sie wissen doch über den Krieg Bescheid — den Krieg im Nahen Osten?«
»Na klar weiß ich Bescheid. Mein Mann ist dort gefallen.«
»Ihr Mann?« Er sah betroffen drein. »Wann?«
»Nur drei Tage vor dem Ende. Zwei Tage vor der Konferenz von Teheran und dem Pakt zwischen den USA und China. Einen Tag, nachdem die Außerirdischen die Mondbasis hochgejagt hatten.«
Er sah sie an, als wäre er ganz und gar fassungslos.
»Was ist los? Ach je, das ist eine alte Narbe. Sechs Jahre her, fast sieben. Und wenn er am Leben geblieben wäre, wären wir heute längst geschieden, es war eine beschissene Ehe. Hören Sie, es ist nicht Ihre Schuld.«
»Ich weiß nicht mehr, was meine Schuld ist.«
»Also Jim jedenfalls nicht. Er war nur ein großer, gutaussehender schwarzer unglücklicher Draufgänger, mit sechsundzwanzig ein großes Tier von einem Captain der Luftwaffe und mit siebenundzwanzig abgeschossen, Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Sie das erfunden haben, oder, das passiert schon seit Jahrtausenden. Und es ist ganz genauso in dieser anderen — Welt passiert, vor Freitag, als der ganze Planet noch so überbevölkert gewesen ist. Ganz genauso. Nur war es zu Beginn des Krieges … oder nicht?« Ihre Stimme wurde leiser, sanfter. »Mein Gott. Es war zu Beginn des Krieges, nicht erst kurz vor dem Waffenstillstand. Der Krieg nahm einfach kein Ende. Er dauerte bis zum heutigen Tag an. Und es gab … es gab keine Außerirdischen — oder doch?«
Orr schüttelte den Kopf.
»Sie haben sie geträumt?«
»Er ließ mich vom Frieden träumen. Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen. Also habe ich die Außerirdischen beschworen. Damit wir etwas hatten, wogegen wir kämpfen konnten.«
»Nicht Sie. Das macht seine Maschine.«
»Nein. Ich komme ganz gut ohne die Maschine zurecht, Miss Lelache. Sie spart ihm nur Zeit und läßt mich schneller träumen. Aber in den vergangenen Wochen hat er daran gearbeitet, um sie irgendwie zu verbessern. Dr. Haber ist ein großer Verbesserer.«
»Bitte nennen Sie mich Heather.«
»Das ist ein hübscher Name.«
»Ihr Name ist George. Bei der Sitzung nannte er Sie immer George. Als wären Sie ein besonders kluger Pudel oder Rhesusaffe. Legen Sie sich hin, George. Träumen Sie das, George.«
Er lachte. Seine Zähne waren weiß, sein Lachen angenehm, da es Zerzaustheit und Verwirrung vergessen machte. »Das bin nicht ich. Das ist mein Unterbewußtsein, zu dem er spricht, wissen Sie. Für seine Zwecke ist das so etwas wie ein Hund oder ein Affe. Es ist nicht rational, aber man kann es für bestimmte Aufgaben dressieren.«
Er sprach niemals voller Verbitterung, was für schreckliche Dinge er auch sagte. Gibt es wirklich Menschen ohne Mißstimmung, ohne Haß, fragte sich Heather. Menschen, die nie uneins mit dem Universum sind? Die das Böse sehen und dem Bösen widerstehen und doch vollkommen unbeeinflußt davon bleiben?
Natürlich gibt es sie. Zahllose, lebende und tote. Alle, die von reiner Barmherzigkeit erfüllt in das große Rad zurückkehren, die dem Weg folgen, dem man nicht folgen kann, ohne zu wissen, daß man ihm folgt, die Frau des Getreidebauern in Alabama und der Lama in Tibet und der Entomologe in Peru und der Fabrikarbeiter in Odessa und der Gemüsehändler in London und der Ziegenhirte in Nigeria und der alte, alte Mann, der an einem ausgetrockneten Flußlauf irgendwo in Australien hockt und einen Pflock spitzt. Es gibt nicht einen unter uns, der sie nicht gekannt hätte. Es gibt genügend von ihnen, genügend, uns alle voranzubringen. Vielleicht.
»Hören Sie mal. Sagen sie, ich muß folgendes wissen: War es nachdem Sie Haber aufsuchten, daß Sie anfingen …«
»Wirkungsvolle Träume zu haben? Nein, vorher. Darum bin ich hingegangen. Ich hatte Angst vor den Träumen, darum habe ich mir illegal Betäubungsmittel beschafft, um die Träume zu unterdrücken. Ich wußte nicht, was ich machen sollte.«
»Warum haben Sie dann nicht die beiden vergangenen Nächte etwas eingenommen, statt zu versuchen, sich wach zu hal ten?«
»Ich habe alles aufgebraucht. Schon Freitagnacht. Hier draußen kann ich kein Rezept einlösen. Aber ich mußte weg. Ich wollte außer Reichweite von Dr. Haber. Es ist alles viel komplizierter, als er wahrhaben will. Er glaubt, daß man alles richten kann. Und er benutzt mich, um alles zu richten, aber er gibt es nicht zu; er lügt, weil er nicht geradeaus sehen möchte, ihn interessiert nicht, was wahr ist, was ist, er kann nichts anderes als seine eigene Denkweise sehen — seine Vorstellung davon, was sein sollte.«