Hier hatte er alles, was er brauchte; Betten, sogar Dutzende davon, Lebensmittel, die Sandwich- und Getränkeautomaten für das Personal der Nachtschicht in den Schlaflabors. Aber er war nicht hungrig. Statt dessen verspürte er eine Art Apathie. Er hörte dem Radio zu, aber das Radio hörte ihm nicht zu. Er war ganz allein, und in der Einsamkeit schien nichts real zu sein. Er brauchte jemanden, irgend jemanden, mit dem er reden, dem er erzählen konnte, was er empfand, damit er selbst überhaupt wußte, daß er etwas empfand. Dieses Grauen vor dem Alleinsein war so stark, daß es ihn fast wieder aus dem Institut hinaus zu den Menschenmassen dort unten getrieben hätte, aber noch war die Apathie stärker als das Grauen. Er unternahm nichts, und die Dunkelheit der Nacht senkte sich langsam herab.
Über dem Mount Hood breitete sich der rötliche Widerschein manchmal enorm aus, dann schrumpfte er wieder. Etwas Großes schlug im Südwesten der Stadt ein, von seinem Büro aus nicht zu sehen; doch wenig später wurden die Wolken von einem flackernden Schein von unten angestrahlt, der aus dieser Richtung zu kommen schien. Haber ging auf den Flur hinaus, um zu sehen, ob es etwas zu sehen gab, nahm aber das Radio mit. Leute kamen die Treppe herauf, er hatte sie gar nicht gehört. Einen Moment sah er sie nur an.
»Dr. Haber«, sagte einer von ihnen.
Es war Orr. »Das wurde aber auch Zeit«, sagte Haber verbittert. »Wo, zum Teufel, haben Sie den ganzen Tag gesteckt? kommen Sie!«
Orr kam hinkend näher; die linke Seite seines Gesichts war geschwollen und blutig, die Lippe aufgeplatzt und die Hälfte des vorderen Schneidezahns fehlte. Die Frau an seiner Seite sah nicht ganz so übel mitgenommen, aber dafür erschöpfter aus: Glasige Augen, weiche Knie. Orr ließ sie auf der Couch im Büro Platz nehmen. »Hat sie einen Schlag auf den Kopf bekommen?« fragte Haber mit seiner lauten Medizinerstimme.
»Nein. Es war nur ein langer Tag.«
»Mir geht es gut«, murmelte die Frau, zitterte aber ein wenig. Orr handelte rasch und umsichtig, zog ihr die abstoßend schmutzverkrusteten Schuhe aus und breitete die Kamelhaardecke vom Fußende der Couch über sie; Haber fragte sich, wer sie sein mochte, dachte jedoch nicht weiter darüber nach. Allmählich funktionierte er wieder. »Lassen Sie sie hier liegen, sie wird schon wieder. Kommen Sie her, waschen Sie sich. Ich habe den ganzen Tag nach Ihnen gesucht. Wo sind Sie gewesen?«
»Wir haben versucht, in die Stadt zurückzukehren. Wir sind in eine Art Bombenteppich geraten, sie haben die Straße direkt vor dem Auto gesprengt. Das Auto ist wie verrückt herumgeschlittert. Ist umgekippt, nehme ich an. Heather folgte mir und konnte rechtzeitig bremsen, darum ist ihrem Auto nichts passiert und wir sind damit weitergefahren. Aber wir mußten über den Sunset Highway, weil die 99 gesprengt worden ist, und dann mußten wir das Auto draußen beim Vogelschutzgebiet an einer Straßensperre abstellen. Wir sind zu Fuß durch den Park hergekommen.«
»Wo, zum Teufel, waren Sie?« Haber hatte heißes Wasser in sein persönliches Waschbecken laufen lassen und reichte Orr ein dampfendes Handtuch, das er sich an das blutige Gesicht halten konnte.
»Blockhütte. Im Küstengebirgszug.«
»Was ist mit Ihrem Bein los?«
»Ich nehme an, ich habe es mir verletzt, als das Auto umgestürzt ist. Wie sieht es aus, sind sie schon in der Stadt?«
»Wenn das Militär etwas darüber weiß, rücken sie nicht damit raus. Sie sagen nur, daß die großen Raumschiffe, als sie heute Morgen gelandet sind, in kleinere mobile Einheiten zerlegt wurden, so etwas Ähnliches wie Helikopter, die ausgeschwärmt sind. Sie sind über der gesamten Westhälfte des Bundesstaats. Es wird gemeldet, daß sie sich nur langsam fortbewegen, aber von Abschüssen hat man noch nichts verlautbaren lassen.«
»Wir haben eins gesehen«, Orrs Gesicht kam mit purpurnen Blutergüssen unter dem Handtuch hervor, aber von Schmutz und Blutspuren befreit, sah es nicht mehr ganz so schockierend aus. »Es muß eins gewesen sein. Ein kleines silbernes Ding, etwa zehn Meter über einer Wiese nahe North Plains. Es schien irgendwie entlangzuhüpfen. Sah nicht wie etwas Irdisches aus. Führen die Außerirdischen Krieg gegen uns, schießen sie Flugzeuge ab?«
»Davon wurde im Radio nichts gesagt. Es wurden keinerlei Verluste gemeldet, außer unter der Zivilbevölkerung. Aber jetzt kommen Sie, wir müssen Ihnen Kaffee und etwas zu essen besorgen. Und dann werden wir, bei Gott, eine kleine Therapiesitzung mitten in der Hölle durchführen und diesem idiotischen Schlamassel, das Sie uns da eingebrockt haben, ein Ende machen.« Er hatte eine Dosis Natriumpentothal vorbereitet; jetzt ergriff er Orrs Arm und verabreichte ihm die Spritze ohne Vorwarnung oder Entschuldigung.
»Darum bin ich hergekommen. Aber ich weiß nicht, ob —«
»Sie es können? Sie können es. Kommen Sie!« Orr beugte sich wieder über die Frau. »Ihr geht es gut. Sie schläft, stören Sie sie nicht, genau das braucht sie jetzt. Kommen Sie!« Er begleitete Orr zu den Lebensmittelautomaten und ließ ihm ein Roastbeefsandwich, ein Sandwich mit Ei und Tomate, zwei Äpfel, vier Schokoriegel und dazu zwei Tassen Kaffee heraus. Sie setzten sich an einen Tisch im Schlaflabor Nummer Eins und fegten ein Patiencespiel zur Seite, das aufgegeben worden war, als die Alarmsirenen ertönten. »Okay. Essen Sie. Und wenn Sie glauben, Sie können dieses ganze Chaos nicht wieder beseitigen, vergessen Sie es. Ich habe an dem Verstärker gearbeitet, und der kann es Ihnen abnehmen. Ich besitze jetzt das Templat, das Modell Ihrer Gehirnemissionen beim wirkungsvollen Träumen. Mein Irrtum in den ganzen vergangenen Monaten über war, daß ich nach einer Entität, einer Omegawelle gesucht habe. Es gibt aber keine. Es handelt sich schlicht und einfach um ein Muster, das durch die Kombination anderer Wellen gebildet wird, und in den vergangenen Tagen kam ich schließlich dahinter, bevor hier die Hölle losgebrochen ist. Der Zyklus beträgt siebenundneunzig Sekunden. Das sagt Ihnen natürlich nichts, obwohl Ihr gottverdammtes Gehirn ja die Ursache dafür ist. Drücken wir es einmal so aus, wenn Sie wirkungsvoll träumen, ist Ihr gesamtes Gehirn mit einem komplex synchronisierten Muster von Emissionen daran beteiligt, das siebenundneunzig Sekunden braucht, bis es einmal vollständig durchgelaufen ist und von vorn anfängt, eine Art Kontrapunkteffekt, der sich zu normalen Diagrammen paradoxen Schlafs verhält wie Beethovens Neunte zu Hänschen klein. Es ist unglaublich komplex, und doch ist es konsistent und wiederholt sich immer wieder. Aus diesem Grund kann ich es Ihnen direkt und verstärkt wieder einspeisen. Der Verstärker ist eingestellt, er ist bereit für Sie, er ist endlich ganz und gar auf das eingestimmt, was in Ihrem Kopf vor sich geht! Wenn sie diesmal träumen, dann im ganz großen Maßstab, Baby! In einem so großen Maßstab, daß Sie diese verrückte Invasion beenden und uns fein säuberlich in ein anderes Kontinuum versetzen können, wo wir von vorn anfangen. Das machen Sie nämlich, wissen Sie. Sie verändern keine einzelnen Dinge oder Leben, Sie verschieben das ganze Kontinuum.«
»Es ist schön, daß ich mit Ihnen darüber reden kann«, sagte Orr, oder etwas in der Art; er hatte die Sandwiches trotz aufgeplatzter Lippe und abgebrochenem Schneidezahn unglaublich schnell hinuntergeschlungen und sich über die Schokoriegel hergemacht. Ironie oder etwas Ähnliches schwang in seinen Worten mit, aber Haber war zu beschäftigt, um darauf zu achten.
»Hören Sie. Ist diese Invasion einfach so passiert, oder ist sie passiert, weil Sie eine Sitzung versäumt haben?«
»Ich habe sie geträumt.«
»Sie haben sich zu einem unkontrollierten wirkungsvollen Traum hinreißen lassen?« Haber machte kein Hehl aus seinem rechtschaffenen Zorn. Er war zu zartfühlend, zu zimperlich mit Orr umgesprungen. Orrs Verantwortungslosigkeit war schuld daran, daß so viele unschuldige Menschen ums Leben gekommen waren und Verwüstung und Panik in der Stadt herrschten: er mußte die Verantwortung für sein Tun übernehmen.