»Keineswegs«, begann Orr gerade, als eine besonders heftige Explosion erfolgte. Das ganze Gebäude erbebte, hallte hohl, bekam Risse, die elektronischen Apparate an der Reihe der leeren Betten hüpften in die Höhe, der Kaffee schwappte in den Tassen. »War das der Vulkan oder die Luftwaffe?« fragte Orr, und Haber stellte mitten in dem ganz natürlichen Schrecken fest, mit dem die Explosion ihn erfüllt hatte, daß Orr kein bißchen erschrocken wirkte. Seine Reaktion war vollkommen abnormal. Am Freitag war er noch wegen einer ethischen Lappalie ganz aus dem Häuschen geraten; und heute, am Mittwoch, blieb er mitten im Armageddon völlig ruhig und gleichmütig. Er schien keinerlei Furcht um seine Person zu empfinden. Aber die mußte er empfinden. Wenn Haber Angst hatte, dann mußte Orr sie zweimal haben. Er unterdrückte seine Angst. Oder glaubte er, fragte sich Haber plötzlich, daß die Invasion ein Traum war, nur weil er sie geträumt hatte?
Und wenn ja?
Wessen Traum?
»Wir gehen besser wieder nach oben«, sagte Haber und stand auf. Er wurde immer ungeduldiger und gereizter; die Aufregung wurde zuviel für ihn. »Wer ist diese Frau überhaupt, die Sie da bei sich haben?«
»Das ist Miss Lelache«, sagte Orr und sah ihn dabei seltsam an. »Die Anwältin. Sie war am Freitag hier.«
»Wie kommt es, daß sie bei Ihnen ist?«
»Sie hat nach mir gesucht, ist mir in die Blockhütte gefolgt.«
»Das können Sie mir alles später erklären«, sagte Haber. Sie hatten keine Zeit, sich mit derartig unbedeutenden Nebensächlichkeiten zu beschäftigen. Sie mußten raus, raus aus dieser explodierenden Welt.
Als sie gerade Habers Büro betraten, barst das Glas des großen Doppelfensters mit einem schrillen, singenden Geräusch und einem gewaltigen Luftsog; beide Männer wurden zu dem Fenster gerissen wie in die Öffnung eines Staubsaugers. Dann wurde alles weiß: Alles. Beide fielen hinaus.
Als Haber wieder sehen konnte, hielt er sich an seinem Schreibtisch fest und rappelte sich mühsam auf. Orr stand schon an der Couch und versuchte, die erschrockene Frau zu beruhigen. Es war kalt in dem Büro: kalte Feuchtigkeit lag in der Frühlingsluft, die durch die leeren Fensteröffnung hereinströmte, und sie roch nach Rauch, verbrannter Isolation, Ozon, Schwefel und Tod. »Wir sollten hinunter in den Keller, finden Sie nicht?« fragte Miss Lelache in gefaßtem Tonfall, obwohl sie am ganzen Körper schlotterte.
»Gehen Sie«, sagte Haber. »Wir müssen noch eine Weile hier oben bleiben.«
»Hierbleiben?«
»Der Verstärker ist hier. Man kann nicht einfach den Stecker rausziehen und wieder reinstecken wie bei einem tragbaren Fernseher. Gehen Sie in den Keller runter, wir kommen zu Ihnen, sobald wir können.«
»Sie wollen ihn jetzt einschlafen lassen?« fragte die Frau, während die Bäume unten am Hügel plötzlich zu hellgelben Feuerbällen explodierten. Die Eruption des Mount Hood wurde von Ereignissen in unmittelbarerer Nähe überschattet; die Erde jedoch bebte schon seit einigen Minuten sanft, eine Art alles beherrschendes Grollen, in dem die eigenen Hände und Gedanken aus reiner Sympathie mitzuvibrieren schienen.
»Da haben Sie verdammt recht, das werde ich. Gehen Sie. Gehen Sie runter in den Keller, ich brauche die Couch. Legen Sie sich hin, George … Hören Sie, Sie da, im Keller werden Sie gleich hinter der Tür zum Raum des Hausmeisters eine Tür mit der Aufschrift ›Notstromgenerator‹ sehen. Gehen Sie da rein und suchen Sie den Hebel mit der Aufschrift EIN. Legen Sie die Hand darauf, und falls das Licht ausgeht, schalten Sie den Generator ein. Dazu müssen Sie den Hebel mit aller Kraft nach oben drücken. Gehen Sie!«
Sie ging. Sie schlotterte immer noch, und lächelte, und auf dem Weg nahm sie kurz Orrs Hand und sagte: »Träumen Sie süß, George.«
»Keine Bange«, sagte Orr. »Alles wird gut.«
»Halten Sie den Mund« fuhr Haber ihn an. Er hatte das Hypnosetonband eingeschaltet, das er höchstpersönlich aufgezeichnet hatte, aber Orr schenkte ihm keinerlei Beachtung, und wegen des Lärms der Explosionen und brennenden Gegenstände war es ohnehin kaum zu hören. »Machen Sie die Augen zu!« befahl Haber, legte eine Hand an den Hals des Patienten und drehte die Lautstärke hoch. »ENTSPANNEN«, sagte seine eigene gewaltige Stimme. »SIE FÜHLEN SICH BEHAGLICH UND ENTSPANNT. SIE GLEITEN HINÜBER IN —« Das ganze Gebäude hüpfte wie ein Lamm im Frühling und setzte sich windschief wieder ab. Etwas tauchte aus dem schmutzigroten, trüben Widerschein vor dem glaslosen Fenster auf: ein ovales, großes Objekt, das sich auf eine Art hüpfender Weise durch die Luft bewegte. Es kam direkt auf das Fenster zu. »Wir müssen hier raus!« schrie Haber über seine eigene Stimme hinweg, doch dann wurde ihm klar, daß Orr schon hypnotisiert war. Er schaltete das Tonband ab und beugte sich hinunter, so daß er Orr ins Ohr sprechen konnte. »Beenden Sie die Invasion!« brüllte er. »Frieden, Frieden, träumen Sie, daß wir in Frieden mit allen leben! Und jetzt schlafen Sie! Antwerpen!« und er schaltete den Verstärker ein.
Aber er hatte keine Zeit mehr, einen Blick auf Orrs EEG zu werfen. Der ovale Umriß schwebte unmittelbar vor dem Fenster. Der stumpfe Bug, der grell von Spiegelungen der brennenden Stadt erhellt wurde, zeigte direkt auf Haber. Er kauerte sich bei der Couch nieder, fühlte sich schrecklich verletzbar, wie auf dem Präsentierteller, gab sich alle Mühe, den Verstärker mit seinem unzureichenden Fleisch zu beschützen und breitete die Arme davor aus. Er warf einen Blick über die Schulter und beobachtete das Schiff der Außerirdischen. Es kam näher. Der Bug, der wie ölverschmierter Stahl aussah, silbern, mit violetten Streifen und Lichtspielen, füllte das Fenster ganz aus. Ein knirschendes, berstendes Geräusch ertönte, als es sich im Rahmen verkeilte. Haber schluchzte laut vor Entsetzen, blieb aber mit ausgebreiteten Armen zwischen dem Außerirdischen und dem Verstärker stehen.
Aus dem zum Stillstand gekommenen Bug streckte sich ein langer, dünner Tentakel und bewegte sich prüfend durch die Luft. Sein Ende, das wie eine Kobra aufragte, zeigte willkürlich hierhin und dorthin und pendelte sich schließlich in Habers Richtung ein. Etwa drei Meter von ihm entfernt verharrte der Tentakel in der Luft und zeigte rund zehn Sekunden lang auf ihn. Dann wurde er mit einem Zischen und einem Schnappen wie das flexible Stahlmaßband eines Zimmermanns wieder eingezogen und ein hohes, summendes Geräusch ging von dem Schiff aus. Der Metallsims des Fensters wurde mit einem Kreischen verbogen. Der Bug des Schiffs wirbelte herum und fiel zu Boden. Aus der dunklen Öffnung, die dahinter klaffte, kam etwas heraus.
Es war, dachte Haber von emotionslosem Grauen gepackt, eine Riesenschildkröte. Dann wurde ihm klar, daß es sich um eine Art von Schutzanzug handelte, der dem Wesen dieses klobige, grünliche, gepanzerte, unförmige Aussehen einer riesigen Meeresschildkröte verlieh, die auf den Hinterbeinen stand.
Es stand ganz still neben Habers Schreibtisch. Sehr langsam hob es den linken Arm und richtete ein metallisches Instrument mit Mündung auf Haber.
Er sah dem Tod ins Auge.
Eine nüchterne, tonlose Stimme kam aus dem Ellbogengelenk. »Was du nicht willst, daß man dir tut, das füg’ auch keinem andern zu«, sagte sie.
Haber sah mit klopfendem Herzen hin.
Der riesige, schwere Metallarm wurde erneut gehoben. »Wir versuchen, friedliche Ankunft durchzuführen«, sagte der Ellbogen in einer einzigen Tonlage. »Bitte andere informieren, daß dies friedliche Ankunft ist. Wir besitzen keine Waffen. Große Selbstzerstörung folgt unbegründeter Angst. Bitte Zerstörung von selbst und anderen beenden. Wir besitzen keine Waffen. Wir nichtaggressives, nichtkämpfendes Volk.«
»Ich … ich … ich … kann der Luftwaffe nichts befehlen«, stammelte Haber.
»Personen in fliegenden Vehikeln werden derzeit kontaktiert«, sagte das Ellbogengelenk des außerirdischen Wesens. »Ist dies militärische Einrichtung?«