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Inzwischen besaß er so viele verschiedene Erinnerungen, so viele Schicksalsfäden an Lebenserfahrung, die in seinem Kopf durcheinanderwirbelten, daß er kaum noch versuchte, sich an irgend etwas zu erinnern. Er nahm alles, wie es kam. Er lebte, fast wie ein kleines Kind, ausschließlich im aktuellen Geschehen. Nichts, und alles, konnte ihn überraschen.

Sein Büro lag im dritten Stock der Öffentlichen Planungsbehörde; seine Position war eindrucksvoller als jede, die er vorher gehabt hatte: Er hatte die Leitung der für die Vorstadtparks Südost zuständigen Abteilung der Städtebaukommission. Er mochte seinen Job nicht, hatte ihn nie gemocht.

Es war ihm stets gelungen, eine Art Bauzeichner zu bleiben, bis zu dem Traum am vergangenen Montag, durch den die Bundesregierung und die Verwaltung der Bundesstaaten, damit sie einem Plan Habers entsprachen, so gründlich durcheinandergewirbelt wurden, daß es zu einer Neuorganisation des gesamten sozialen Systems kam und er als städtischer Bürokrat endete. In all seinen Leben hatte er nicht einen einzigen Job gehabt, der tatsächlich seinen Wünschen entsprochen hätte; er wußte, er war am besten im Entwerfen, im Erfinden von angemessenen und zweckdienlichen Formen von Gegenständen, aber diese Begabung war in keiner seiner zahlreichen Existenzen gefragt gewesen. Doch dieser Job, den er (jetzt) seit fünf Jahren hatte und verabscheute, lag vollkommen außerhalb seiner Interessen. Und das erfüllte ihn mit Besorgnis.

Bis zu dieser Woche hatte es eine essentielle Kontinuität, eine Kohärenz zwischen allen Existenzen gegeben, die auf seinen Träumen basierten. Er war immer eine Art Bauzeichner gewesen, hatte stets in der Corbett Avenue gelebt. Selbst in dem Leben, das auf den Betonstufen eines ausgebrannten Hauses in einer verwüsteten Stadt auf einer sterbenden Welt zu Ende gegangen war, selbst in diesem Leben hatte die Kontinuität angehalten, bis es keine Jobs und keine Häuser mehr gab. Und quer durch alle anschließenden Träume oder Leben hindurch, waren viele bedeutende Sachverhalte ebenfalls gleich geblieben. Er hatte das lokale Klima ein wenig verändert, aber nicht sehr, und der Treibhauseffekt, das dauerhafte Erbe der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, war geblieben. Die Geographie blieb unverändert: Kontinente lagen weiterhin dort, wo sie hingehörten. Ebenso die Grenzen der Nationalstaaten; die menschliche Natur änderte sich nicht, und so weiter. Falls Haber ihm suggeriert haben sollte, ein edleres Menschengeschlecht herbeizuträumen, war der Erfolg bislang ausgeblieben.

Aber Haber lernte, wie er seine, Orrs, Träume besser steuern konnte. Die letzten beiden Sitzungen hatten die Lage radikal verändert. Er hatte nach wie vor seine Wohnung in der Corbett Avenue, dieselben drei Zimmer, durch die immer noch der Marihuanaduft des Hausmeisters wehte; doch jetzt arbeitete er als Verwaltungsangestellter in einem riesigen Gebäude in der Innenstadt, und die Innenstadt hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Wolkenkratzer wirkten beinahe so eindrucksvoll wie in der Welt, in der die Bevölkerung nicht dezimiert worden war, schienen aber viel haltbarer und hübscher zu sein. Inzwischen wurde alles vollkommen anders gehandhabt.

Seltsamerweise war Albert M. Merdle nach wie vor Präsident der Vereinigten Staaten. Er schien so unveränderlich zu sein wie die Umriße der Kontinente. Aber die Vereinigten Staaten waren nicht mehr die Weltmacht, die sie einst gewesen waren, und auch kein anderes einzelnes Land.

Portland hatte es zum Hauptsitz des Weltplanungszentrums gebracht, Herz des supranationalen Völkerbundes. Portland war, wie man auf Ansichtskarten lesen konnte, die Hauptstadt des Planeten. Zwei Millionen Einwohner. Der gesamte Innenstadtbereich bestand aus gigantischen WPZ-Gebäuden, keines älter als zwölf Jahre, allesamt sorgfältig geplant und von Grünanlagen und Alleen umgeben. Tausende Menschen, größtenteils VöBu-Beamte oder Angestellte des WPZ, tummelten sich auf diesen Alleen; Touristengruppen aus Ulan Bator und Santiago de Chile defilierten mit erhobenen Köpfen vorbei und lauschten den Stimmen der Reiseführer in ihren Kopfhörern. Es war ein lebendiger und imposanter Anblick — die hohen, ansprechenden Gebäude, die gepflegten Rasen, die gutgekleideten Menschenmassen. Für George Orr sah alles recht futuristisch aus.

Natürlich konnte er Dave’s nicht finden. Er konnte nicht einmal die Ankeny Street finden. Er erinnerte sich aus früheren Existenzen so deutlich an sie, daß er sich, bis er dort eintraf, schlichtweg weigerte, seiner momentanen Erinnerung zu glauben, in der es einfach keine Ankeny Street gab. Wo sie sein sollte, ragte zwischen Rasenflächen und Rhododendren das Koordinationszentrum für Forschung und Entwicklung in den Himmel. Er sparte sich die Mühe, nach dem Pendleton Building zu suchen; Morrison Street gab es noch, eine breite Allee, deren Mittelstreifen man gerade neu mit Orangenbäumen bepflanzt hatte, aber es gab dort keine Gebäude im Neo-Inka-Stil und hatte sie nie gegeben.

Er konnte sich nicht an den genauen Namen von Heathers Kanzlei erinnern; lautete er Forman, Esserbeck und Rutti oder Forman, Esserbeck, Goodhue und Rutti? Er fand eine Telefonzelle und schlug die Kanzlei nach. Nichts Vergleichbares war eingetragen, aber es gab einen P. Esserbeck, Rechtsanwalt. Orr rief dort an und fragte nach, aber eine Miss Lelache arbeitete nicht dort. Schließlich nahm er allen Mut zusammen und suchte nach ihrem Namen. Es standen keine Lelaches in dem Buch.

Sie konnte noch existieren, aber einen anderen Namen tragen, dachte er. Vielleicht hatte ihre Mutter den Namen ihres Mannes abgelegt, als er nach Afrika ausgewandert war. Oder sie hätte nach der Scheidung den Namen ihres Mannes behalten können. Aber er wußte überhaupt nicht, wie ihr Mann mit Nachnamen geheißen hatte. Vielleicht hatte sie ihn ja auch gar nicht angenommen; viele Frauen änderten ihre Nachnamen nach einer Eheschließung nicht mehr, weil sie den Brauch als ein Relikt der Unterdrückung der Frau betrachteten. Doch welchen Sinn hatten derartige Spekulationen? Es konnte gut sein, daß es gar keine Heather Lelache gab: daß die — dieses Mal — nicht geboren worden war.

Als er das akzeptiert hatte, fiel Orr eine andere Möglichkeit ein. Wenn sie in diesem Augenblick vorbeilaufen und nach mir suchen würde, dachte er, würde ich sie überhaupt erkennen?

Sie war braun. Ein klares, dunkles Bernsteinbraun, wie Bernstein aus dem Baltikum oder eine Tasse starken Tees aus Ceylon. Aber es gingen keine braunen Menschen vorbei. Keine schwarzen Menschen, keine weißen, keine gelben, keine roten. Sie kamen aus allen Teilen der Welt her, um im Weltplanungszentrum zu arbeiten oder es sich anzusehen, aus Thailand, Argentinien, Ghana, China, Irland, Tasmanien, dem Libanon, Äthiopien, Vietnam, Honduras, Liechtenstein. Aber alle trugen dieselbe Kleidung, Hosen, Jacken, Regencapes; und unter der Kleidung hatten sie alle dieselbe Hautfarbe. Sie waren grau.

Dr. Haber war entzückt gewesen, als das passierte. Es war am letzten Samstag gewesen, ihre erste Sitzung nach einer Woche. Er hatte sich fünf Minuten lang kichernd und bewundernd im Spiegel des Waschraums betrachtet; Orr hatte er auf dieselbe Weise bewundert. »Diesmal haben Sie es zur Abwechslung einmal auf die wirtschaftliche Weise gemacht, George! Bei Gott, ich glaube, Ihr Gehirn scheint allmählich mit mir zu kooperieren. Sie wissen, was ich Ihnen zu träumen suggeriert habe — hm?«

Denn neuerdings redete Haber frank und frei mit Orr darüber, was er mit Orrs Träumen machte und bewirken wollte. Nicht, daß es viel geholfen hätte.

Orr hatte seine eigenen hellgrauen Hände mit den kurzen grauen Nägeln betrachtet. »Ich nehme an, Sie haben mir suggeriert, daß es kein Problem mit unterschiedlicher Hautfarbe mehr geben soll. Keine Rassenfrage.«

»Exakt. Und natürlich schwebte mir eine politische und ethische Lösung vor. Statt dessen wählten Ihre primären Denkprozesse wieder einmal die übliche Abkürzung, die sich normalerweise als Kurzschluß erweist, aber diesmal haben Sie das Problem an der Wurzel beseitigt. Haben die Veränderung biologisch und absolut gemacht. Es hat nie ein Rassenproblem gegeben! Sie und ich sind die einzigen Menschen auf der Welt, George, die wissen, daß es jemals ein Rassenproblem gegeben hat. Können Sie sich das vorstellen? Niemand war je Ausgestoßener in Indien — niemand wurde je in Alabama gelyncht — niemand wurde in Johannesburg abgeschlachtet. Der Krieg ist ein Problem, das wir überwunden haben, und Rassenzugehörigkeit ist ein Problem, das wir überhaupt nie hatten! In der gesamten Menschheitsgeschichte mußte niemand je wegen seiner Hautfarbe leiden. Sie lernen dazu, George! Sie werden der größte Wohltäter sein, den die Menschheit je kannte, wenn auch unwillig. Soviel Zeit und Energie haben Menschen dafür verschwendet, um eine religiöse Lösung für das Leid zu finden, und dann kommen Sie daher und entlarven Buddha und Jesus Christus und alle anderen als die Fakire, die sie waren. Sie haben versucht, vor dem Bösen davonzulaufen, aber wir, wir merzen es aus — wir schaffen es Stück für Stück ab!«