»Aber es gab nichts, das das untermauert, das es bewiesen hätte?«
»Nein. Nichts. Sie war nicht da gewesen. Niemand erinnerte sich daran, daß sie da gewesen war, außer mir. Und ich hatte mich geirrt. Na also.«
Haber nickte verständnisvoll und strich über seinen Bart. Der leichte Fall von Medikamentenmißbrauch schien sich zu einer ernsthaften Verwirrung ausgewachsen zu haben, aber noch nie war ihm eine Wahnvorstellung so unverblümt geschildert worden. Orr mochte ein intelligenter Schizophrener sein, der ihn an der Nase herumführte, ihm mit schizoider Erfindungsgabe und Heimtücke etwas vorspielte; aber ihm fehlte die leicht introvertierte Arroganz dieser Leute, für die Haber ein ganz außerordentlich feines Gespür besaß.
»Was meinen Sie, warum Ihre Mutter nicht bemerkte, daß sich die Realität seit der vergangenen Nacht verändert hatte?«
»Also sie hat es nicht geträumt. Ich meine, der Traum hat die Realität tatsächlich verändert. Er schuf rückwirkend eine andere Realität, zu der sie die ganze Zeit gehört hatte. Da sie sich darin befand, hatte sie keine Erinnerung an eine andere. Ich schon, ich erinnerte mich an beide, weil ich im Augenblick der Veränderung … da … war. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe, und ich weiß, daß sie nicht besonders logisch erscheint. Aber ich brauche eine Erklärung, andernfalls müßte ich der Tatsache ins Auge sehen, daß ich verrückt bin.«
Nein, dieser Bursche war kein Hasenfuß.
»Ich halte nichts von Spekulationen, Mr. Orr. Ich habe es auf Fakten abgesehen. Und geistige Vorgänge sind Fakten für mich, glauben Sie mir. Wenn man sieht, wie die Träume eines anderen Menschen so, wie er sie träumt, in Schwarzweiß mit dem Elektro-Enzephalographen aufgezeichnet werden, was ich schon zehntausendmal gemacht habe, dann betrachtet man Träume nicht mehr als ›unwirklich‹. Sie existieren; sie sind Ereignisse; sie hinterlassen ihre Spuren. Okay. Ich nehme an, Sie hatten noch andere Träume, die dieselben Auswirkungen zeitigten?«
»Einige. Aber lange Zeit nicht mehr. Nur unter Streß. Aber es schien … öfter zu passieren. Ich bekam es mit der Angst zu tun.«
Haber beugte sich vor. »Warum?«
Orr sah ihn mit leerem Blick an.
»Warum Angst?«
»Weil ich nichts verändern will!« sagte Orr, als würde er etwas mehr als Offensichtliches aussprechen. »Wer bin ich, in den Lauf der Dinge einzugreifen? Außerdem bewirkt mein Unterbewußtsein diese Veränderungen, ohne Kontrolle durch den Intellekt. Ich habe es mit Selbsthypnose versucht, aber das hat nichts genützt. Träume sind zusammenhanglos, egoistisch, irrational — unmoralisch, wie Sie vor einer Minute gesagt haben. Sie stammen aus dem unzivilisierten Part von uns, jedenfalls teilweise, oder nicht? Ich wollte die arme Ethel nicht töten. Ich wollte sie nur aus dem Weg haben. In Träumen geschieht so etwas immer auf drastische Weise. Träume schlagen den kürzesten Weg ein. Ich hatte sie umgebracht. Bei einem Autounfall, tausend Meilen entfernt, sechs Wochen vorher. Ich bin verantwortlich für ihren Tod.«
Haber strich sich wieder über den Bart. »Darum«, sagte er bedächtig, »die Träume unterdrückenden Medikamente. Damit Sie eine weitere Verantwortung vermeiden.«
»Ja. Die Medikamente verhinderten, daß diese Träume sich aufbauen und allzu lebhaft werden konnten. Es sind nur ganz bestimmte, sehr intensive, die …« Er suchte nach dem richtigen Wort, »… Wirklichkeit werden.«
»Richtig. Okay. Wollen mal sehen. Sie sind unverheiratet; Sie sind Bauzeichner bei der Bonneville-Umatilla-Energieversorgung. Wie gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«
»Gut.«
»Wie ist es um Ihr Liebesleben bestellt?«
»Ich hatte eine Probeehe. Ging letzten Sommer in die Brüche, nach zwei Jahren.«
»Haben Sie oder die Frau sie beendet?«
»Beide. Sie wollte kein Kind. Es war kein umfassender Ehevertrag.«
»Und seither?«
»Na ja, ein paar Mädchen aus meinem Büro, ich bin eigentlich nicht so ein … triebhafter Hengst.«
»Wie sieht es mit zwischenmenschlichen Beziehungen generell aus? Finden Sie, daß Sie zufriedenstellende Beziehungen zu anderen Menschen haben, daß Sie eine Nische in der emotionalen Ökologie Ihrer Umgebung finden konnten?«
»Ich denke ja.«
»So, daß Sie sagen können, mit Ihrem Leben ist im großen und ganzen alles in Ordnung. Richtig? Okay. Und jetzt verraten Sie mir noch eines; möchten Sie, möchten Sie sich wirklich von ganzem Herzen von dieser Medikamentenabhängigkeit befreien?«
»Ja.«
»Okay, gut. Sie haben Medikamente eingenommen, weil Sie nicht mehr träumen wollen. Aber nicht alle Träume sind gefährlich; nur ganz bestimmte besonders lebhafte. Sie haben im Traum Ihre Tante Ethel als weiße Katze gesehen, aber am nächsten Morgen war sie nicht wirklich eine weiße Katze — richtig? Manche Träume sind in Ordnung — sicher.«
Er wartete auf Orrs zustimmendes Nicken.
»Denken Sie über folgendes nach. Was halten Sie davon, wenn wir die ganze Sache einmal testen und dabei vielleicht herausfinden, wie Sie sicher träumen können, ohne Angst? Lassen Sie mich das erklären. Das Thema Träume ist bei Ihnen emotional ziemlich aufgeladen. Sie haben buchstäblich Angst davor, zu träumen, weil Sie glauben, daß einige Ihrer Träume das wirkliche Leben in einer Art und Weise beeinflussen können, auf die Sie keinen Einfluß haben. Also das mag eine komplexe und bedeutungsvolle Metapher sein, mit der Ihr Unterbewußtsein Ihrem bewußten Verstand etwas über die Realität sagen möchte — Ihre Realität, Ihr Leben —, das Sie momentan rational noch nicht zu akzeptieren bereit sind. Aber wir können die Metapher auch wortwörtlich nehmen; es ist im Augenblick noch nicht nötig, sie in rationale Begriffe umzuwandeln. Ihr Problem ist derzeit folgendes: Sie haben Angst davor, zu träumen, aber Sie müssen träumen. Sie haben bisher versucht, Ihre Träume mit Hilfe von Medikamenten zu unterdrücken; das hat nicht funktioniert. Okay, versuchen wir das Gegenteil. Bringen wir Sie absichtlich zum Träumen. Bringen wir Sie gleich hier dazu, intensiv und lebhaft zu träumen. Unter meiner Aufsicht, unter kontrollierten Bedingungen. Damit Sie wieder die Kontrolle über alles haben, das Ihnen Ihrer Meinung nach aus dem Ruder gelaufen ist.«
»Wie soll ich auf Kommando träumen?« fragte Orr extrem nervös.
»In Dr. Habers Palast der Träume können Sie das! Sind Sie schon hypnotisiert worden?«
»Bei der Zahnbehandlung.«
»Gut. Okay. Wir gehen folgendermaßen vor. Ich versetze Sie in hypnotische Trance und suggeriere, daß Sie schlafen, daß Sie träumen werden, und was Sie träumen werden. Sie bekommen eine Trancekappe auf, um sicherzustellen, daß Sie sich wirklich im Tiefschlaf befinden, nicht nur in einer Hypnosetrance. Während Sie träumen, beobachte ich Sie leibhaftig und über EEG die ganze Zeit. Ich wecke Sie, und dann sprechen wir über das Traumerlebnis. Wenn alles sicher über die Bühne gegangen ist, können Sie dem nächsten Traum vielleicht ein wenig gelassener entgegensehen.«
»Aber ich werde hier nicht wirkungsvoll träumen; es passiert nur bei einem einzigen Traum unter Dutzenden oder Hunderten.« Orrs Schutzbehauptungen waren erstaunlich konsistent.
»Sie können hier jedwede Art von Traum träumen. Trauminhalt und Traumwirkung können von einem motivierten Subjekt und einem entsprechend ausgebildeten Hypnotiseur fast vollkommen kontrolliert werden. Ich mache das schon seit zehn Jahren. Und Ich werde die ganze Zeit bei Ihnen sein, weil Sie eine Trancekappe tragen werden. Haben Sie schon mal eine getragen?«