»Das käme darauf an«, sagte Orr.
»Käme worauf an?«
»Na ja … ich weiß auch nicht. Wenn Reinkarnation existiert, dann verweigert man ihr möglicherweise ein besseres Leben und verdammt sie zu einem elenden. Vielleicht heilt man sie, und sie geht nach Hause und ermordet sechs Menschen in ihrem Dorf. Ich weiß, Sie würden ihr das Serum geben, weil Sie es haben und sie Ihnen leid tut. Aber Sie wissen nicht, ob das, was Sie tun, gut oder böse oder beides ist …«
»Okay! Zugegeben! Ich weiß, was ein Schlangengiftserum bewirkt, aber ich weiß nicht, was ich bewirke — Okay, unter diesen Voraussetzungen kaufe ich das gern. Und sage: Was spielt das schon für eine Rolle? Ich gebe unumwunden zu, daß ich in fünfundachtzig Prozent der Fälle nicht die geringste Ahnung habe, was ich mit Ihrem verflixten schrägen Gehirn anstelle, und Sie auch nicht, aber wir machen es — also können wir jetzt weitermachen?« Sein viriler, jovialer Schwung war überwältigend; er lachte, und auch Orr konnte ein klägliches Lächeln nicht unterdrücken.
Aber während ihm die Elektroden angelegt wurden, unternahm er einen letzten Versuch, mit Haber zu kommunizieren. »Ich habe auf dem Weg hierher eine Bürgerfestnahme und Euthanasie gesehen«, sagte er.
»Weswegen?«
»Eugenik. Krebs.«
Haber nickte wachsam. »Kein Wunder sind Sie deprimiert. Sie haben die Anwendung kontrollierter Gewalt zum Wohle der Gemeinschaft noch nicht rückhaltlos akzeptiert; vielleicht werden Sie das nie. Wir haben es hier mit einer harten Welt zu tun, George. Einer realistischen Welt. Aber wie schon gesagt, das Leben kann nicht sicher sein. Diese Gesellschaft ist hart und wird jedes Jahr härter: die Zukunft wird es rechtfertigen. Wir brauchen Gesundheit. Wir haben einfach keinen Platz für die Unheilbaren, die genetisch Geschädigten, die die Spezies schädigen; wir haben keine Zeit für vergebliches, sinnloses Leiden.« Er sagte es mit einer Begeisterung, die hohler als sonst klang; Orr fragte sich, wie sehr Haber diese Welt gefiel, die er selbst so unerschrocken geschaffen hatte. »Jetzt bleiben Sie so sitzen, ich möchte aber nicht, daß Sie aus reiner Gewohnheit einschlafen. Okay, prima. Vielleicht langweilen Sie sich. Ich möchte, daß Sie eine Weile nur so dasitzen. Halten Sie die Augen offen, denken Sie an was Sie wollen. Ich mache mich hier noch an Babys Eingeweiden zu schaffen. Also, es geht los: Bingo.« Er drückte den weißen EIN-Knopf in dem Paneel rechts vom Verstärker am Kopfende der Couch.
Ein vorübergehendes außerirdisches Wesen rempelte Orr im Gedränge der Allee aus Versehen an; es hob den linken Ellbogen, um sich zu entschuldigen, und Orr murmelte: »Entschuldigung.« Es blieb stehen, versperrte ihm halb den Weg; und auch er blieb stehen und betrachtete beeindruckt und erschrocken die gleichmütige, zwei Meter siebzig große, grünlich gepanzerte Gestalt. Es sah so grotesk aus, daß es fast schon komisch wirkte; wie eine Meeresschildkröte, und doch besaß es, wie eine Meeresschildkröte, eine seltsame, erhabene Schönheit, eine verklärtere Schönheit als alles, das im Sonnenlicht hauste oder auf Erden wandelte.
Die Stimme erklang tonlos aus dem noch erhobenen linken Ellbogen. »Jor Jor«, sagte es.
Nach einem Moment identifizierte Orr diese barsoomsche Doppelsilbe als seinen eigenen Namen. »Ja, ich bin Orr«, sagte er leicht betreten.
»Bitte gerechtfertigte Unterbrechung entschuldigen. Sie sind zu iahklu’ fähiger Mensch, wie schon früher festgestellt. Das bekümmert selbst.«
»Ich glaube — ich verstehe nicht —«
»Auch wir waren verschiedentlich verstört. Vorstellungen kreuzen sich im Nebel. Wahrnehmung ist schwierig. Vulkane spucken Feuer. Hilfe wird angeboten: ablehnbar. Schlangengiftserum wird nicht für alle verschrieben. Bevor Sie Anweisungen in falsche Richtung folgen, können Kräfte zur Unterstützung gerufen werden in unmittelbar folgender Weise: Er’ perrehnne!«
»Er’ perrehnne«, wiederholte Orr automatisch und konzentrierte sich ganz darauf, zu verstehen, was ihm der Außerirdische sagen wollte.
»Wenn gewünscht. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Selbst ist Universum. Bitte Unterbrechung, Kreuzung im Nebel verzeihen.« Der Außerirdische machte, obwohl er weder Hals noch Taille besaß, die Andeutung einer Verbeugung und entfernte sich riesig und grünlich über der Masse der grauen Gesichter. Orr blieb stehen und sah ihm nach, bis Haber sagte: »George!«
»Was?« Er betrachtete verwirrt das Zimmer, den Schreibtisch, das Fenster.
»Was, zum Teufel, haben Sie gemacht?«
»Nichts«, sagte Orr. Er saß immer noch auf der Couch und hatte das Haar voller Elektroden. Haber hatte den AUS-Knopf des Verstärkers gedrückt, war vor die Couch getreten und betrachtete zuerst Orr und dann den EEG-Monitor.
Er machte die Maschine auf und prüfte den Ausdruck darin, den Schreibgeräte auf einer Papierrolle festgehalten hatten. »Ich dachte, ich hätte den Monitor falsch gelesen«, sagte er und gab ein eigentümliches Lachen von sich, eine sehr abgespeckte Version seines üblichen fröhlichen Gebrülls. »Hier gehen merkwürdige Dinge in Ihrer Großhirnrinde vor sich, dabei habe ich gar nichts mit dem Verstärker in die Großhirnrinde eingespeist, ich hatte gerade mit einer schwachen Stimulation der Brücke begonnen, nichts Bestimmtes … Was ist das … Herrgott, das müssen hundertfünfzig mV sein.« Er drehte sich unvermittelt zu Orr um. »Was haben Sie gedacht? Rekonstruieren Sie es.«
Ein extremer Widerwille, der zum Gefühl einer Bedrohung, einer Gefahr anwuchs, überkam Orr.
»Ich dachte — ich habe über die Außerirdischen nachgedacht.«
»Die Aldebaraner? Und?«
»Ich dachte nur an einen, den ich auf dem Weg hierher auf der Straße gesehen habe.«
»Und das erinnerte Sie bewußt oder unterbewußt an die Euthanasie, deren Ausführung Sie Zeuge wurden. Richtig? Okay. Das könnte die komische Sache hier unten in den Emotionszentren erklären, die der Verstärker empfangen und verstärkt hat. Das müssen Sie doch gespürt haben — etwas Besonderes, Ungewöhnliches, das sich in Ihrem Geist abgespielt hat?«
»Nein«, sagte Orr aufrichtig. Ihm war es nicht ungewöhnlich vorgekommen.
»Okay. Also hören Sie, falls meine Reaktion Sie beunruhigt hat, sollten Sie wissen, daß ich den Verstärker schon hundertmal an mein eigenes Gehirn angeschlossen habe, und an Laborsubjekte, alles in allem sogar rund fünfundvierzig verschiedene Subjekte. Er wird Ihnen so wenig ein Leid zufügen wie denen. Aber diese Daten sind höchst ungewöhnlich für ein erwachsenes Subjekt, darum wollte ich mich nur bei Ihnen vergewissern, ob Sie etwas subjektiv gespürt haben.«
Haber wollte sich selbst beruhigen, nicht Orr; aber das spielte keine Rolle. Beruhigungen beeindruckten Orr nicht mehr.
»Okay. Zweiter Versuch.« Haber schaltete das EEG wieder ein und näherte sich dem EIN-Schalter des Verstärkers. Orr biß die Zähne zusammen und rechnete mit Chaos und Nacht.
Aber die kamen nicht. Und er befand sich auch nicht in der Innenstadt und redete mit einer zwei Meter siebzig großen Schildkröte. Er blieb auf der bequemen Couch sitzen und betrachtete den dunstigen, graublauen Kegel des St. Helen vor dem Fenster. Und so heimlich, still und leise wie ein Dieb in der Nacht überkam ihn ein Gefühl des Wohlbehagens, eine Gewißheit, daß alles gut war, daß er sich mittendrin befand. Selbst ist Universum. Man würde nicht zulassen, daß er in Isolation geriet, daß er strandete. Er war wieder da, wo er hingehörte. Er verspürte eine große Ruhe und die absolute Gewißheit, wo er sich befand und wo sich alles andere befand. Dieses Gefühl erschien ihm nicht ekstatisch oder mystisch, sondern einfach nur normal. So hatte er sich meistens gefühlt, außer in Krisenzeiten oder unter Schmerzen; es war die Stimmung seiner Kindheit und der besten und denkwürdigsten Stunden seiner Jugend und Reife; es war sein natürlicher Daseinsmodus. In den vergangenen Jahren hatte er ihn verloren, Stück für Stück, aber fast gänzlich, ohne zu merken, daß er ihn verloren hatte. Vor vier Jahren in diesem Monat, vor vier Jahren im April, war etwas geschehen, durch das er dieses Gleichgewicht eine Weile ganz verloren hatte; und in letzter Zeit hatten ihn die Medikamente, die er einnahm, die Träume, die er träumte, die unablässigen Sprünge von einer Lebenserinnerung zur nächsten, die Verschlechterung der Lebensqualität, je mehr Haber versuchte, sie zu verbessern, hatte ihn das alles noch mehr vom rechten Weg abgebracht. Und jetzt war er auf einmal wieder da, wo er hingehörte.