Er wußte aber auch, daß er das nicht allein bewerkstelligt hatte.
»Hat der Verstärker das gemacht?« fragte er laut.
»Was gemacht?« fragte Haber, der sich wieder um die Maschine herumbeugte und den EEG-Monitor betrachtete.
»Oh … ich weiß nicht.«
»Er macht überhaupt nichts, wie Sie es verstehen«, antwortete Haber mit einer Spur Gereiztheit. In solchen Augenblicken konnte man Haber fast mögen, wenn er keine Rolle spielte, keine Reaktionen heuchelte, und ganz und gar darin aufging, was er aus den schnellen und subtilen Reaktionen seiner Maschinen lernen konnte. »Er verstärkt nur das, was Ihr eigenes Gehirn im Augenblick macht, indem er selektiv die Aktivität steigert, und Ihr Gehirn macht gerade absolut nichts Interessantes … Da.« Er notierte sich hastig etwas, ging wieder zum Verstärker, lehnte sich zurück und betrachtete die tanzenden Linien auf dem kleinen Monitor. Er trennte drei Linien, die wie eine ausgesehen hatte, indem er an Schaltern drehte, und vereinte sie erneut. Orr unterbrach ihn nicht noch einmal. »Machen Sie die Augen zu«, sagte er einmal schroff. »Drehen Sie die Augäpfel aufwärts. Gut. Lassen Sie sie zu und stellen Sie sich etwas vor — einen roten Würfel. Gut …«
Als er schließlich die Maschinen abschaltete und die Elektroden löste, ließ die Gleichmut, die Orr empfand, im Gegensatz zu mit Drogen oder Alkohol induzierten Stimmungen, nicht nach.
»Dr. Haber«, sagte er ohne Umschweife und ohne Schüchternheit, »ich kann nicht mehr zulassen, daß Sie meine wirkungsvollen Träume benutzen.«
»Hm?« sagte Haber, der sich im Geiste immer noch mit Orrs Gehirn beschäftigte, nicht mit Orr selbst.
»Ich kann nicht mehr zulassen, daß Sie meine Träume benutzen.«
»Benutzen?«
»Benutzen.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Haber. Er hatte sich aufgerichtet und überragte Orr, der immer noch saß. Er war grau, groß, breitschultrig, lockenbärtig, seine Brust gewölbt und die Stirn gerunzelt. Dein Gott ist ein eifersüchtiger Gott. »Es tut mir leid, George, aber Sie sind nicht in der Position, so etwas zu sagen.«
Orrs Götter kannten weder Namen noch Neid, verlangten weder Anbetung noch Gehorsam.
»Und doch sage ich es«, antwortete er sanftmütig.
Haber sah auf ihn herab, sah ihn einen Moment wirklich an, und durchschaute ihn. Er schien zu erschrecken wie ein Mann, der einen Gazevorhang zur Seite schieben möchte und feststellen muß, daß es sich um eine Tür aus Granit handelt. Er durchquerte das Zimmer. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Jetzt stand Orr auf und streckte sich ein wenig.
Haber strich sich mit einer großen grauen Hand über den Bart.
»Ich stehe kurz vor einem Durchbruch — nein, ich bin mittendrin«, sagte er, und seine tiefe Stimme klang nicht mehr polternd und jovial, sondern dunkel, mächtig. »Ich benutze Ihr Gehirnwellenmuster für eine Rückkopplungs-Eliminierungs-Replikations-Verstärkungs-Routine und programmiere den Verstärker so, daß er die EEG-Rhythmen reproduziert, die beim wirkungsvollen Träumen auftreten. Ich nenne Sie Post-REM-Rhythmen. Wenn ich sie hinreichend verallgemeinert habe, kann ich die REM-Rhythmen eines anderen Gehirns damit überlagern und bin fest überzeugt, nach einer Periode der Synchronisierung werden sie wirkungsvolles Träumen in diesem Gehirn induzieren. Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Ich kann das PREM-Stadium in einem sorgfältig ausgewählten und trainierten Gehirn induzieren, und zwar so mühelos, wie ein Psychologe vermittels ESB Wut bei einer Katze oder Gelassenheit bei einem psychotischen Menschen induzieren kann — noch leichter sogar, denn ich kann stimulieren, ohne daß ich Kontakte einpflanzen oder auf Chemikalien zurückgreifen muß. Ich bin nur wenige Tage, vielleicht sogar nur wenige Stunden davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Und wenn es soweit ist, sind Sie vom Haken. Sie sind dann überflüssig. Ich arbeite nicht gern mit einem unwilligen Subjekt; mit einem angemessen ausgestatteten und orientierten Subjekt dürften wesentlich schneller Fortschritte zu erzielen sein. Aber bis ich soweit bin, brauche ich Sie. Diese Forschungen müssen zu Ende geführt werden. Es sind wahrscheinlich die wichtigsten Forschungen, die überhaupt jemals durchgeführt wurden. Ich brauche Sie in dem Maße … Wenn Sie sich mir als Freund, dem Streben nach Wissen oder dem Wohl der gesamten Menschheit nicht in dem Maße verpflichtet fühlen, daß Sie freiwillig bleiben — dann hätte ich keine Skrupel, Sie zu zwingen, dem höheren Ziel zu dienen. Gegebenenfalls erwirke ich eine Einweisung in die Zwangsther… die Persönliches-Wohlbefinden-Kontrolle. Falls erforderlich, greife ich auf Medikamente zurück wie bei einem gewalttätigen Psychopathen. Ihre Weigerung, bei einem Projekt dieser enormen Bedeutung mitzuhelfen, ist natürlich psychotisch. Ich muß wohl nicht eigens betonen, daß mir Ihre freiwillige Mitarbeit, ohne rechtlichen oder psychischen Zwang, natürlich unendlich viel lieber wäre. Mir würde sie außerordentlich viel bedeuten.«
»Für Sie würde es überhaupt keinen Unterschied machen«, sagte Orr ohne Aggression.
»Warum wehren Sie sich gegen mich — jetzt? Warum jetzt, George? Wo Sie soviel dazu beigetragen haben und wir dem Ziel so nahe sind?« Dein Gott ist ein vorwurfsvoller Gott. Aber mit Schuldgefühlen kam man George Orr nicht bei; wäre er ein Mann gewesen, der zu Schuldgefühlen neigte, wäre er keine dreißig geworden.
»Weil es um so schlimmer wird, je länger Sie weitermachen. Und anstatt mich daran zu hindern, wirkungsvolle Träume zu haben, möchten Sie jetzt selbst welche träumen. Ich zwinge den Rest der Welt nicht gern, in meinen Träumen zu leben, aber ich will ganz gewiß nicht in Ihren leben.«
»Was soll das heißen: ›um so schlimmer wird es‹? Passen Sie auf, George.« Von Mann zu Mann. Die Vernunft obsiegt. Wenn wir uns nur zusammensetzen und darüber reden … »In den wenigen Wochen, in denen wir zusammenarbeiten, haben wir folgendes erreicht. Die Überbevölkerung eliminiert; die städtische Lebensqualität erhöht und das ökologische Gleichgewicht des Planeten wieder hergestellt. Krebs als hauptsächliche Todesursache ausgerottet.« Er bog bei der Aufzählung seine kräftigen grauen Finger nach hinten. »Das Problem verschiedener Hautfarben und damit den Rassenhaß eliminiert. Den Krieg eliminiert. Das Risiko eliminiert, daß die gesamte Rasse genetisch verfällt, indem wir schadhaftes Genmaterial aussondern. Die Armut eliminiert — nein, dabei sind wir gerade —, und damit einhergehend wirtschaftliche Ungleichheit und Klassenkämpfe überall auf der Welt. Was noch? Geisteskrankheiten, unzureichende Anpassung an die Realität: das wird eine Weile dauern, aber wir haben die ersten Schritte unternommen. Unter der Führung von EFMEG sind die Verringerung menschlichen Leids, körperlichen wie seelischen, und die konstante Verbesserung valider individueller Selbstverwirklichung ein fortwährender Vorgang mit raschem Fortschritt. Fortschritt, George! Wir haben in sechs Wochen mehr Fortschritte gemacht, als die Menschheit in sechshunderttausend Jahren!«