»Vulkane spucken Feuer«, murmelte Orr.
»Was?«
»Kann ich jetzt gehen?«
»Morgen um fünf.«
»Ich komme«, sagte Orr und ging hinaus.
10
Il descend, réveillé, l’autre côté du rêve.
Es war erst fünfzehn Uhr, er sollte in sein Büro im Parks Department zurückkehren und die Baupläne für die neuen Spielanlagen in den südöstlichen Vororten fertigstellen; aber er tat es nicht. Er dachte einmal kurz darüber nach und ließ es sein. Obwohl ihm sein Gedächtnis versicherte, daß er diese Position jetzt schon seit fünf Jahren bekleidete, traute er seinem Gedächtnis nicht. Das war keine Arbeit, die er tun mußte. Es war nicht sein Job.
Ihm war eines bewußt, indem er solchermaßen einen großen Teil der Realität, der einzigen Existenz, die er tatsächlich hatte, ins Irreale relegierte, ging er genau dasselbe Risiko ein wie der Verstand eines Geistesgestörten: den Verlust des Gefühls, einen freien Willen zu haben. Er wußte, wenn man leugnet, was ist, dann ist man von dem besessen, was nicht ist, den Hirngespinsten, den Schrecken, die herbeiströmen, um das Nichts zu füllen. Aber das Nichts war da. Diesem Leben fehlte das Reale; es war hohl; der Traum, der schuf, ohne daß etwas geschaffen werden mußte, war dünn und fadenscheinig geworden. Wenn dies das Sein war, dann war das Nichts vielleicht besser. Er würde die Ungeheuer und die Zwänge jenseits der Vernunft akzeptieren. Er würde nach Hause gehen und keine Medikamente einnehmen, aber schlafen und die Träume träumen, die da kommen mochten.
Er stieg in der Innenstadt aus der Seilbahn, nahm jedoch nicht die Straßenbahn, sondern machte sich zu Fuß zu seinem eigenen Distrikt auf; er war immer gern spazierengegangen.
Hinter dem alten Lovejoy Park stand noch ein Stück des alten Freeway, eine riesige Rampe, die vermutlich aus den letzten zwanghaften Zuckungen der Straßenbaumanie in den siebziger Jahren datierte; sie mußte einst zur Marquam Bridge geführt haben, endete jetzt aber zehn Meter über der Front Avenue in der Luft. Sie war nicht zerstört worden, als die Stadt nach den Jahren des Schwarzen Todes gesäubert und neu aufgebaut wurde, was daran liegen mochte, daß sie groß, nutzlos und häßlich, und damit für das amerikanische Auge unsichtbar war. Da stand sie; ein paar Büsche hatten im Straßenbelag Fuß gefaßt, während darunter eng zusammengedrängte Gebäude hochgewachsen waren wie Schwalbennester an einer Felsklippe. In diesem drögen und eher unscheinbaren Teil der Stadt gab es noch kleine Geschäfte, unabhängige Märkte, unappetitliche kleine Restaurants und so weiter, die trotz der strengen Auflagen des allgemeingültigen Gesetzes über die gerechte Rationierung von Endverbraucherprodukten und die erdrückende Konkurrenz der großen WPZ-Supermärkte und Verkaufsstellen, über die neunzig Prozent des gesamten Welthandels abgewickelt wurden, eine karge Existenz fristeten.
Bei einem dieser Geschäfte unter der Rampe handelte es sich um einen Gebrauchtwarenhändler; auf einem Schild über den Schaufenstern stand ANTIQUITÄTEN, während ein auf dem Glas aufgemaltes Plakat mit abblätternder Farbe in mangelhafter Rechtschreibung TRODDEL verkündete. In einem Schaufenster standen primitive handgetöpferte Keramikgefäße, ein alter Schaukelstuhl, über den ein mottenzerfressener Paisleyschal drapiert worden war, in einem anderen, und um diese beiden Schmuckstücke herum ein wahres Durcheinander von kulturellem Tand: ein Hufeisen, eine von Hand aufziehbare Uhr, etwas Rätselhaftes aus einer Molkerei, eine gerahmte Fotografie von Präsident Eisenhower, eine leicht angestoßene Glaskugel mit drei ecuadorianischen Münzen darin, ein mit Krabbenbabys und Seetang bemalter Klodeckel aus Plastik, ein abgegriffener Rosenkranz, ein Stapel alter 45er Singles mit der Aufschrift »Gutr Zust«, aber ganz offensichtlich zerkratzt. Ganz genau die Art von Geschäft, dachte Orr, in dem Heathers Mutter eine Zeitlang gearbeitet haben könnte. Er folgte seiner Eingebung und trat ein.
Im Inneren war es kühl und recht dunkel. Ein Pfeiler der Rampe formte eine Wand, eine hohe, kahle Fläche aus Beton, die der Wand einer unterseeischen Höhle glich. Aus den halbdunklen Gründen von Schatten, klobigem Mobiliar, verblichenen Gemälden und auf antik getrimmten Spinnrädern, die mittlerweile freilich selbst echte Antiquitäten geworden, wenn auch noch genauso nutzlos waren, aus diesen unerforschlichen Abgründen herrenlosen Tinnefs tauchte jetzt eine hünenhafte Gestalt auf, die langsam vorwärts zu schweben schien, lautlos und reptilienhaft: Der Besitzer war ein Außerirdischer.
Er hob den angewinkelten linken Ellbogen. »Guten Tag«, sagte er. »Sie wünschen ein Objekt?«
»Danke. Ich sehe mich nur um.«
»Bitte setzen Sie diese Aktivität fort«, sagte der Besitzer. Er zog sich ein kleines Stück in die Schatten zurück, wo er bewegungslos verharrte. Orr betrachtete das Spiel des Lichts auf ein paar zerschlissenen alten Pfauenfedern, entdeckte einen Heimkinoprojektor aus den 1950er Jahren, ein blauweißes Sake-Geschirr, einen Stapel alter Mad-Hefte, für die ein stolzer Preis verlangt wurde. Er hob einen soliden Stahlhammer hoch und bewunderte dessen Balance; es war ein sorgfältig hergestelltes Werkzeug, etwas Gutes. »Ist dies Ihre eigene Wahl?« erkundigte er sich bei dem Besitzer und fragte sich, was die Außerirdischen wohl an diesem Treibgut der fetten Jahre der amerikanischen Geschichte faszinieren mochte.
»Was kommt, ist akzeptabel«, antwortete der Außerirdische.
Ein kongenialer Standpunkt. »Ich frage mich, ob Sie mir etwas erklären könnten. Was bedeutet in Ihrer Sprache das Wort iahklu’?«
Der Besitzer trat langsam wieder vor und tastete sich mit seinem breiten, panzerartigen Schutzanzug vorsichtig an zerbrechlichen Gegenständen vorbei.
»Nicht kommunizierbar. Sprache für Kommunikation mit Individual-Personen enthält nicht andere Formen von Beziehungen. Jor Jor.« Die rechte Hand, eine große, grünliche, flossenartige Extremität, wurde langsam und auf womöglich zaghafte Weise ausgestreckt. »Tiua’k Ennbe Ennbe.«
Orr schüttelte ihm die Hand. Der Besitzer verharrte reglos und betrachtete ihn offenbar, obwohl man in dem dunkel getönten, von Dämpfen erfüllten Kopfhelm keine Augen erkennen konnte. Wenn es denn ein Helm war. Gab es in diesem grünen Panzer, diesem mächtigen Schutzanzug, überhaupt eine substantielle Form? Er wußte es nicht. Aber er fühlte sich in Gegenwart von Tiua’k Ennbe Ennbe rundum wohl.
»Ich nehme nicht an«, sagte er und folgte damit wieder einer Eingebung, »daß Sie jemals jemanden namens Lelache gekannt haben?«
»Lelache. Nein. Suchen Sie Lelache.«
»Ich habe Lelache verloren.«
»Kreuzungen im Nebel«, stellte der Außerirdische fest.
»Das kommt etwa hin«, sagte Orr. Er nahm eine weiße, etwa fünf Zentimeter hohe Büste von Franz Schubert, wahrscheinlich das Geschenk einer Klavierlehrerin an einen Schüler, von einem überfüllten Tisch. Auf den Sockel hatte der Schüler geschrieben: »Was, ich mir Sorgen machen?« Schuberts Gesichts sah sanftmütig und geduldig aus, ein kleiner Buddha mit Brille. »Wieviel dafür?« fragte Orr.
»Fünf neue Cent«, antwortete Tiua’k Ennbe Ennbe.
Orr gab ihm eine VöBu-Münze.
»Gibt es eine Möglichkeit, iahklu’ zu kontrollieren, damit es das tut … was es tun sollte?«