»Iahklu’ ist zuviel für eine einzelne Person«, sagte George gerade, »es läuft aus dem Ruder. Sie wissen, was erforderlich ist, es zu kontrollieren. Oder vielmehr, nicht exakt zu kontrollieren, das ist nicht das richtige Wort; es dort zu lassen, wo es hingehört, den richtigen Weg zu gehen … Ich verstehe es nicht. Vielleicht können Sie es ja. Bitten Sie sie um Hilfe. Sagen Sie Er’ perrehnne, bevor Sie … bevor Sie auf den EIN-Knopf drücken.«
»Vielleicht haben Sie gar nicht so Unrecht«, sagte Haber. »Vielleicht lohnt sich eine Untersuchung. Ich kümmere mich darum, George. Ich lasse einen Aldebaraner aus dem Kulturzentrum raufkommen und werde zusehen, ob ich ein paar Informationen darüber bekommen kann … Für Sie ist das alles Fachchinesisch, Mrs. Orr, hm? Ihr Mann hätte in die Psychologie gehen sollen, in die Forschung; es ist eine Verschwendung, daß er sein Dasein als Bauzeichner fristet.« Warum sagte er das? George entwarf als Landschaftsarchitekt Parks und Spielplätze. »Er besitzt ein Händchen dafür, er ist ein Naturtalent. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, die Aldebaraner mit ins Boot zu nehmen, aber damit könnte er wirklich und wahrhaftig recht haben. Sie sind wahrscheinlich froh, daß er kein Seelenklempner ist, hm? Schrecklich, wenn der Liebste einem am Eßzimmertisch die unterbewußten Begierden analysiert, was?« Er lachte polternd und donnernd und führte sie hinaus. Heather war bestürzt und den Tränen nahe. »Ich hasse ihn«, sagte sie nachdrücklich, als sie auf der spiralförmigen Rolltreppe nach unten fuhren. »Er ist ein gräßlicher Mann. Falsch. Ein großer Blender!«
George nahm ihren Arm. Er sagte nichts.
»Hast du es überstanden? Wirklich überstanden? Du mußt keine Medikamente mehr nehmen und du mußt nicht mehr zu diesen schrecklichen Sitzungen?«
»Ich denke ja. Er wird meine Papiere einschicken, und in sechs Wochen bekomme ich meine Freigabe. Wenn ich mich gut führe.« Er lächelte ein wenig müde. »Das war hart für dich, Liebes, aber nicht für mich. Diesmal nicht. Aber ich habe Hunger. Wohin gehen wir zum Essen? Casa Boliviana?«
»Chinatown«, sagte sie und erstarrte. »Ha-ha«, fügte sie hinzu. Das alte Chinesenviertel war zusammen mit dem Rest der Innenstadt abgerissen worden, vor mindestens zehn Jahren. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie das einen Moment ganz vergessen. »Ich meine Ruby Loo’s«, sagte sie verwirrt.
George zog ihren Arm ein wenig dichter an sich. »Prima«, sagte er.
Es war leicht zu finden; die Seilbahn hielt auf der anderen Seite des Flusses im alten Lloyd Center, einst das größte Einkaufszentrum der Welt vor dem Zusammenbruch. Heute waren die vielgeschossigen Parkhäuser so ausgestorben wie die Dinosaurier; viele Geschäfte und Läden an der zweistöckigen Promenade geschlossen und vernagelt. Die Eisbahn war seit zwanzig Jahren nicht mehr gefüllt worden. Kein Wasser floß in den bizarren, romantischen Brunnen aus Schmiedeeisen. Aus kleinen Zierbäumchen waren enorme Bäume geworden, deren Wurzeln den Asphalt Meter um die zylinderförmigen Umrandungen herum sprengten. Stimmen und Schritte hallten übertrieben laut und ein wenig hohl, wenn man durch diese langen, unzureichend beleuchteten und halb verfallenen Arkaden ging.
Ruby Loo’s lag auf der oberen Etage. Die Zweige einer Roßkastanie verdeckten die Glasfassade beinahe. Der Himmel über ihnen hatte eine zarte, aber auffällige grüne Färbung, die Farbe, die man kurz an einem Frühlingsabend sehen kann, wenn es nach einem Regenguß aufgeklart hat. Heather schaute zu dem fernen, unglaublich friedlichen Jadehimmel auf; das Herz ging ihr auf und sie spürte, wie alle Ängste von ihr abfielen wie eine abgestreifte Schlangenhaut. Aber das war nicht von Dauer. Es folgte eine seltsame Umkehr, eine Verlagerung. Etwas schien sie einfangen, sie festhalten zu wollen. Sie blieb beinahe stehen und wandte den Blick von dem Himmel aus Jade auf die verlassenen, langen, halbdunklen Gehwege vor sich. Dies war ein merkwürdiger Ort. »Es ist gruselig hier oben«, sagte sie.
George zuckte die Achseln, aber sein Gesicht sah angespannt und recht grimmig aus.
Wind war aufgekommen, zu warm für den April vergangener Zeiten, ein feuchter, heißer Wind, der die großen Zweige der Kastanie mit ihren grünen Fingern in Bewegung versetzte und weiter unten in den langen, menschenleeren Fluren Abfall aufwirbelte. Das rote Neonschild hinter den zuckenden Zweigen schien im Wind trüber zu werden und zu schwanken, seine Form zu verändern; es verkündete nicht Ruby Loo’s, es verkündete überhaupt nichts mehr. Nichts verkündete mehr etwas. Nichts hatte einen Sinn. Der Wind wehte hohl durch leere Innenhöfe. Heather wandte sich von George ab und ging zur nächsten Wand; sie war in Tränen ausgebrochen. In ihrem Schmerz war ihr erster Instinkt, sich zu verstecken, sich in die Ecke einer Mauer zu verkriechen und sich zu verstecken.
»Was ist denn, Liebes … Schon gut. Nicht aufgeben, es wird alles wieder gut.«
Ich verliere den Verstand, dachte sie; es war nicht George, es war die ganze Zeit nicht George, ich war es.
»Alles wird gut«, flüsterte er nochmals, aber sie hörte an seiner Stimme, daß er es selbst nicht glaubte. Sie spürte an seinen Händen, daß er es nicht glaubte.
»Was ist nur los?« rief sie verzweifelt. »Was ist denn nur los?«
»Ich weiß nicht«, sagte er fast achtlos. Er hatte den Kopf gehoben und sich ein wenig von ihr abgewendet, drückte sie aber immer noch an sich, um ihren Weinkrampf zu beenden. Er schien zu beobachten, zu horchen. Sie spürte, wie sein Herz heftig und regelmäßig in seiner Brust schlug.
»Heather, hör mir zu. Ich muß zurück.«
»Wohin zurück? Was ist denn nur los?« Ihre Stimme klang dünn und schrill.
»Zu Haber. Ich muß gehen. Sofort. Warte auf mich — im Restaurant. Warte auf mich, Heather. Komm mir nicht hinterher.« Er verschwand. Sie mußte ihm folgen. Er ging, ohne sich umzusehen, hastig die lange Treppe hinunter, unter den Arkaden hindurch, an dem trockenen Brunnen vorbei, zur Haltestelle der Seilbahnstation hinaus. Dort wartete eine Kabine am Ende des Seils; er sprang hinein. Sie lief weiter, das Atmen tat ihr in der Brust weh, als sich die Kabine gerade in Bewegung setzte. »Was soll das alles, George?«
»Es tut mir leid.« Er keuchte ebenfalls. »Ich muß dorthin. Ich wollte dich da nicht mit reinziehen.«
»Wo rein?« Sie haßte ihn. Sie saßen auf gegenüberliegenden Sitzen und schnauften sich an. »Warum führst du dich auf wie ein Verrückter? Warum gehst du wieder dorthin zurück?«
»Haber —« Georges Stimme versagte einen Moment. »Er träumt«, sagte er. Eine übermächtige, panische Angst überkam Heather; sie achtete nicht darauf.
»Träumt was? Na und?«
»Schau zum Fenster hinaus.«
Sie hatte nur ihn angesehen, während sie liefen und seit sie in die Kabine eingestiegen waren. Jetzt überquerte die Seilbahn den Fluß hoch über dem Wasser. Aber es gab kein Wasser mehr. Der Fluß war ausgetrocknet. Das Flußbett lag rissig und verschlammt im Scheinwerferlicht der Brücken, übelriechend, voller Unrat, Schlick, Gebeine und verlorene Werkzeuge, sterbende Fische. Die großen Schiffe lagen umgestürzt und rostend an den hoch aufragenden, verschlickten Docks.
Die Gebäude der Innenstadt von Portland, Hauptstadt der Welt, die hohen, neuen, hübschen Kuben aus Stein und Glas mit den angemessenen Grünanlagen dazwischen, die Festungen der Regierung — Forschung und Förderung, Kommunikation, Industrie, Wirtschaftsplanung, Umweltschutzbehörde — schmolzen. Sie wurden weich und schwankten wie Wackelpudding, der zu lange in der Sonne gestanden hat. Die Kanten waren bereits an den Seiten hinabgeflossen und hatten riesige, beigefarbene Schlieren hinterlassen.