Die Seilbahn fuhr sehr schnell und hielt nicht mehr an den Haltestellen: mit dem Kabel mußte etwas nicht im Ordnung sein, dachte Heather ohne eine Spur persönlicher Anteilnahme. Sie rasten weiter über die in Auflösung begriffene Stadt hinweg, tief genug, daß sie das Rumoren und die Schreie hören konnten.
Als die Kabine höher stieg, wurde der Mount Hood hinter George sichtbar, der ihr gegenüber saß. Wahrscheinlich bemerkte er den roten Widerschein als Spiegelung in ihrem Gesicht oder ihren Augen, denn er drehte sich sofort um und sah den riesigen inversen Feuerkegel.
Die Kabine schwankte wie wild zwischen der verfallenden Stadt und dem formlosen Himmel.
»Heute scheint überhaupt nichts richtig zu funktionieren«, sagte eine Frau hinten in der Kabine mit lauter, bebender Stimme.
Das Licht der Eruption war schrecklich und atemberaubend.
Ihre enorme materielle und geologische Kraft wirkte beruhigend im Vergleich zu dem leeren Gebiet, das jetzt am Ende des Seils vor der Kabine lag.
Die Vorahnung, die Heather überkommen hatte, als sie von dem Jadehimmel herabsah, war jetzt Wirklichkeit geworden. Da war es. Es war ein Gebiet, möglicherweise auch eine zeitliche Periode, einer Art von Leere. Es war die Gegenwart der Abwesenheit: eine nichtmeßbare Einheit ohne Eigenschaften, in die alles hineinfiel und aus der nichts mehr herauskam. Es war schrecklich und es war das Nichts. Es war der falsche Weg.
Dort hinein ging George, als die Seilbahn an ihrer Endhaltestelle zum Stillstand kam. Unterwegs drehte er sich zu ihr um und rief: »Warte auf mich, Heather! Komm mir nicht nach, bitte komm mir nicht nach!«
Aber so sehr sie versuchte, ihm zu gehorchen, es kam zu ihr. Es breitete sich rasch vom Zentrum her aus. Sie stellte fest, daß alles verschwunden war, daß sie panisch durch die Dunkelheit irrte und ohne Stimme und trostlos den Namen ihres Mannes rief, bis sie um das Zentrum ihres eigenen Wesens herum zusammengerollt niederstürzte und für immer und ewig durch den trockenen Abgrund fiel.
Durch reine Willenskraft, die wahrlich groß ist, wenn man sie zur richtigen Zeit in der richtigen Weise einsetzt, spürte George Orr unter seinen Füßen die soliden Marmorstufen, die zum EFMEG Tower führten. Er ging vorwärts, während seine Augen ihm sagten, daß er auf Nebel ging, auf Schlamm, auf verwesenden Leichen, auf zahllosen winzigen Kröten. Es war sehr kalt, aber dennoch roch es nach glühendem Metall und brennendem Haar oder Fleisch. Er durchquerte das Foyer; die goldenen Buchstaben des Aphorismus rund um die Kuppel herum sprangen vorübergehend hoch: MENSCH MENSCHHEIT MEN E E E. Die Es versuchten, ihn zu Fall zu bringen. Er trat auf ein Laufband, obwohl er es mit den Augen nicht sehen konnte; er trat auf die spiralförmige Rolltreppe, die er nur durch seinen unablässigen und eisernen Willen aufrecht hielt, und fuhr hinauf ins Nichts. Er machte nicht einmal die Augen zu.
Auf der obersten Etage bestand der Boden aus Eis. Es war etwa einen Fingerbreit dick und weitgehend durchsichtig. Durch dieses Eis hindurch konnte er die Sterne der südlichen Hemisphäre sehen. Orr trat auf das Eis, worauf sämtliche Sterne laut und falsch ertönten, wie gesprungene Glocken. Der üble Geruch war hier so stark, daß Orr würgen mußte. Er ging weiter und streckte die Hand aus. Die Holzplatte der Tür von Habers Büro harrte seiner Berührung; er konnte sie nicht sehen, ertastete sie jedoch. Ein Wolf heulte. Die Lava wälzte sich der Stadt entgegen.
Er ging weiter und kam zur letzten Tür. Er stieß sie auf. Auf der anderen Seite wartete das Nichts.
»Helft mir«, sagte er laut, denn die Leere zerrte an ihm, sog ihn ein. Seine Kraft allein reichte nicht aus, durch das Nichts auf die andere Seite zu gehen.
In seinem Kopf regte sich dumpf etwas; er dachte an Tiua’k Ennbe Ennbe, an die Büste von Schubert und Heather, die mit wütender Stimme sagte: »Was ist denn nur los, George?« Das schien rein alles zu sein, womit er das Nichts durchqueren mußte. Er ging vorwärts. Er wußte, während er ging, daß er alles verlieren würde, was er besaß.
Er betrat das Auge des Alptraums.
Es war eine kalte, vage in Bewegung befindliche, kreisende, aus Angst bestehende Dunkelheit, die ihn zur Seite zog, ihn zerriß. Er wußte, wo der Verstärker stand. Er streckte seine sterbliche Hand in die Richtung aus, die alle Dinge gehen. Er berührte ihn; tastete nach dem untersten Knopf und drückte einmal darauf.
Dann kauerte er sich nieder, bedeckte die Augen und duckte sich, denn die Angst hatte von seinem Verstand Besitz ergriffen. Als er den Kopf hob und hinsah, existierte die Welt wieder. Sie war in keiner guten Verfassung, aber sie war da.
Sie befanden sich nicht im EFMEG Tower, sondern in einem schäbigeren, gewöhnlicheren Büro, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Haber lag ausgestreckt und massiv auf der Couch, und sein Bart stand in die Höhe. Wieder ein rotbrauner Bart, und weiße Haut, keine graue mehr. Die Augen waren halb offen, sahen jedoch nichts.
Orr nahm die Elektroden ab, deren Kabel wie Fadenwürmer zwischen Habers Schädel und dem Verstärker verliefen. Orr betrachtete die Maschine, deren Türen allesamt offenstanden; sie sollte zerstört werden, dachte er. Aber er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, und auch nicht den Willen dazu. Zerstörung lag nicht in seiner Natur; und eine Maschine ist sogar noch unschuldiger und freier von Sünde als ein Tier. Sie kennt keinerlei Absichten, außer unseren eigenen.
»Dr. Haber«, sagte er und schüttelte die schweren, breiten Schultern ein wenig. »Haber! Wachen Sie auf!«
Nach einer Weile kam Bewegung in die massige Gestalt, und sie richtete sich auf. Sie war ganz schlaff und haltlos. Der massive, aber hübsche Kopf hing zwischen den Schultern. Der Mund stand offen. Die Augen blickten starr geradeaus in die Dunkelheit, in die Leere, in das Nicht-Sein im Zentrum von William Haber; sie waren nicht mehr milchig, sie waren leer.
Orr verspürte Angst vor ihm, Angst um Leib und Leben, und wich zurück.
Ich muß Hilfe herbeiholen, dachte Orr, allein werde ich nicht damit fertig … Er ging aus dem Büro, durchquerte ein unbekanntes Wartezimmer, lief die Treppe hinunter. Er war noch nie in diesem Gebäude gewesen und hatte keine Ahnung, was es sein mochte oder wo es sich befand. Als er draußen auf der Straße anlangte, wußte er, daß es sich um eine Straße in Portland handelte, mehr aber auch nicht. Er befand sich nicht einmal in der Nähe des Washington Park oder der Hügel im Westen. Diese Straße hatte er noch niemals vorher betreten.
Die Leere von Habers Wesen, sein wirkungsvoller Alptraum, der sich von dem träumenden Gehirn nach außen ausdehnte, hatte Verbindungen zerstört. Die Kontinuität, die stets zwischen den Welten oder Zeitverläufen von Orrs Träumen geherrscht hatte, war jetzt unterbrochen worden. Das Chaos hatte seinen Einzug gehalten. Er besaß wenig und zusammenhanglose Erinnerungen an die Existenz, in der er sich jetzt befand; sein gesamtes Wissen stammte fast ausschließlich aus den anderen Erinnerungen, den anderen Traumzeiten.
Andere Menschen, die nicht über sein Wissen verfügten, mochten besser für diese Veränderung der Existenz gewappnet sein: aber sie würden auch mehr Angst verspüren, da sie keine Erklärung dafür hatten. Sie würden feststellen, daß sich die Welt radikal, sinnlos und urplötzlich verändert hatte, ohne eine denkbare rationale Ursache für die Veränderung. Dr. Habers Traum würde in hohem Maße Tod und Schrecken nach sich ziehen.
Und Verlust. Und Verlust.
Er wußte, daß er sie verloren hatte; hatte es gewußt, seit er mit ihrer Hilfe in die schreckliche Leere um den Träumenden herum hinausgetreten war. Sie war ebenso unwiederbringlich dahin wie die Welt der grauen Menschen und das riesige, unechte Gebäude, in das er hineingelaufen war, nachdem er sie allein im Verfall und der Auflösung des Alptraums zurückgelassen hatte. Sie war fort.
Er versuchte nicht, Hilfe für Haber zu finden. Für Haber gab es keine Hilfe. Auch nicht für ihn selbst. Er hatte alles getan, was er jemals tun würde. Er wanderte weiter durch die fremden Straßen. Anhand der Anlage der Straßen konnte er erkennen, daß er sich im nordöstlichen Teil von Portland befand, eine Gegend, in der er sich nie besonders gut ausgekannt hatte. Die Häuser waren niedrig, und an den Straßenecken konnte er manchmal einen Blick auf die Berge werfen. Mount Hood ragte dunkelviolett und erloschen in den zunehmend dunkleren Aprilhimmel. Der Berg schlief.