Träumte, träumte.
Orr ging ziellos eine Straße entlang und dann die nächste; war so erschöpft, daß er sich manchmal einfach direkt auf dem Bürgersteig hinlegen und eine Weile ausruhen wollte, aber dennoch ging er weiter. Jetzt näherte er sich dem Industriegebiet, das näher am Fluß lag. In der halb zerstörten und halb verwandelten Stadt, einem Durcheinander und einem Chaos grandioser Pläne und unvollständiger Erinnerungen, herrschte die Regsamkeit eines Tollhauses; Feuer und Wahnsinn sprangen von Haus zu Haus über. Und dennoch gingen die Menschen wie eh und je ihren Verrichtungen nach: Zwei Männer raubten einen Juwelierladen aus, und dahinter kam eine Frau, die mit einem plärrenden, im Gesicht knallroten Säugling auf den Armen zielstrebig nach Hause ging.
Wo immer zu Hause sein mochte.
11
Sternenlicht fragte Nicht-Wesen: »Meister, existiert Ihr? Oder existiert Ihr nicht?« Aber es bekam keine Antwort auf die Frage …
Irgendwann in dieser Nacht, als Orr versuchte, durch das Chaos der Vororte zur Corbett Avenue zu gelangen, hielt ihn einer der aldebaranischen Außerirdischen an und überredete ihn, mit ihm zu kommen. Orr folgte ihm fügsam. Nach einer Weile erkundigte er sich, ob es sich um Tiua’k Ennbe Ennbe handelte, aber er fragte es ohne innere Überzeugung und schien sich nicht besonders dafür zu interessieren, als der Außerirdische ihm wortreich erklärte, daß man ihn Jor Jor und den Außerirdischen selbst E’nememen Asfah nannte.
Der Außerirdische führte ihn zu seinem Apartment nahe beim Fluß, über einer Fahrradreparaturwerkstatt und gleich neben der Hope Eternal Gospel Mission, die heute Abend ziemlich überfüllt war. Überall auf der Welt bat man die verschiedenen Götter mehr oder weniger höflich um eine Erklärung dafür, was sich zwischen 6:25 und 7:08 Uhr pazifischer Standardzeit abgespielt hatte. Von unten tönte in süßem Mißklang ausgerechnet »Rock of Ages« herauf, als sie die dunkle Treppe zu der Wohnung im ersten Stock hinaufgingen. Dort schlug der Außerirdische vor, daß sich Orr auf das Bett legen sollte, da er müde aussah. »Schlaf, der das zerriß’ne Garn der Obhut wieder heilt«, sagte er.
»Zu schlafen, vielleicht träumen; ay, das ist der wunde Punkt«, entgegnete Orr. Die seltsame Art und Weise, wie die Außerirdischen kommunizierten, hatte etwas, dachte er; aber er war viel zu müde, um darüber nachzudenken, was das sein mochte. »Wo wirst du schlafen?« fragte er, als er sich auf das Bett fallen ließ.
»Nir gend wo«, antwortete der Außerirdische und zerlegte mit seiner tonlosen Stimme das Wort in drei gleichberechtigte Silben.
Orr bückte sich, um die Schnürsenkel zu lösen. Er wollte die Bettdecke des Außerirdischen nicht mit seinen Schuhen beschmutzen, damit würde er ihm seine Freundlichkeit schlecht vergelten. Beim Bücken wurde ihm schwindlig. »Ich bin müde«, sagte er. »Ich habe heute viel getan. Das heißt, ich habe etwas getan. Das Einzige, das ich jemals getan habe. Ich habe auf einen Knopf gedrückt. Meine ganze Willenskraft, die akkumulierte Kraft meiner gesamten Existenz, waren erforderlich, um diesen verdammten AUS-Knopf zu drücken.«
»Du hast wohl gelebt«, antwortete der Außerirdische.
Er stand in einer Ecke und hatte offenbar vor, unbegrenzte Zeit dort stehenzubleiben.
Er stand nicht da, dachte Orr: nicht in dem Sinne, wie er selbst stehen, sitzen, liegen oder sein würde. Er war in demselben Sinne da, wie man in einem Traum irgendwo ist.
Orr legte sich hin. Er spürte deutlich das Mitgefühl und die beschützerische Zuneigung des Außerirdischen, der auf der anderen Seite des dunklen Zimmers stand. Der Außerirdische sah ihn, nicht mit den Augen, als kurzlebig, fleischlich, ohne Panzer, ein seltsames, unendlich verwundbares Wesen, das in den Strömungen des Möglichen dahintrieb: etwas, das Hilfe brauchte. Ihm war das einerlei. Er brauchte Hilfe. Müdigkeit übermannte ihn, griff ihn auf wie eine Strömung des Meeres, in dem er langsam versank. »Er’ perrehnne«, murmelte er und kapitulierte vor dem Schlaf.
»Er’ perrehnne«, antwortete E’nememen Asfah lautlos.
Orr schlief. Er träumte. Es gab keinen wunden Punkt. Seine Träume kamen und gingen wie Wellen aus der Tiefsee, fernab von jedem Ufer, auf und ab, profund und harmlos, brachen sich nirgendwo, veränderten nichts. Sie tanzten ihren Tanz inmitten aller anderen Wellen im Meer des Seins. Durch seinen Schlaf schwammen die großen grünen Meeresschildkröten, tauchten voll schwerer, unerschöpflicher Anmut durch die Tiefen, waren in ihrem Element.
Anfang Juni standen die Bäume in vollem Laub, trieben die Rosen aus. Überall in der Stadt erblühte die altmodische, Portland Rose genannte Sorte so unverwüstlich wie Unkraut an dornigen Ranken. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Die Wirtschaft erholte sich wieder. Die Leute mähten ihre Rasen.
Orr stattete dem Staatlichen Sanatorium für Geisteskranke in Linnton, ein wenig nördlich von Portland, einen Besuch ab. Der in den neunziger Jahren errichtete Komplex stand auf einer großen Klippe mit Ausblick auf die Marschen des Willamette und die gotische Eleganz der St. Johns Bridge. Ende April und im Mai waren sie hier vollkommen überbelegt gewesen, da es nach den unerklärlichen Ereignissen des Abends, die inzwischen nur noch als »Bruch« bezeichnet wurden, zu einer regelrechten Seuche von Nervenzusammenbrüchen gekommen war; aber das hatte nachgelassen, und jetzt entsprach die Routine in der Nervenheilanstalt wieder der personell unterbesetzten, überfüllten schrecklichen Norm.
Ein großer Pfleger mit sanfter Stimme brachte Orr nach oben zu den Einbettzimmern im Nordflügel. Die Tür, die in diesen Flügel führte, war, wie die Türen zu den Zimmern auch, schwer, mit einem kleinen Guckloch in einer Höhe von einem Meter fünfzig ausgestattet, und alle Türen waren abgeschlossen.
»Nicht, daß er Ärger machen würde«, sagte der Pfleger, als er die Korridortür aufschloß. »Ist nie gewalttätig geworden. Aber er übt einen schlechten Einfluß auf die anderen aus. Wir haben es schon auf zwei verschiedenen Stationen mit ihm versucht. Keine Chance. Die anderen haben Angst vor ihm, so was habe ich noch nie gesehen. Sie beeinflussen einander alle und haben Panikanfälle und unruhige Nächte und so weiter, aber nicht so. Sie haben Angst vor ihm. Kratzen nachts an den Türen, um von ihm wegzukommen. Und dabei liegt er einfach immer nur da. Na ja, früher oder später werden Sie es mit eigenen Augen sehen. Ich nehme einmal an, ihm ist es gleichgültig, wo er sich befindet. Da sind wir«
Er schloß die Tür auf und ging vor Orr in das Zimmer. »Besuch, Dr. Haber«, sagte er.
Haber war dünn. Der blauweiße Schlafanzug hing wie ein Sack an ihm. Sein Haar und der Bart waren kurz geschnitten, aber gepflegt und ordentlich. Er saß auf dem Bett und blickte in die Leere.
»Dr. Haber«, sagte Orr, aber seine Stimme versagte; er verspürte enormes Mitleid, aber auch Angst. Er wußte, was Haber sah. Er hatte es ebenfalls gesehen. Er sah Welt nach dem April 1998. Er sah die Welt, wie der Verstand sie mißverstand: den bösen Traum.
In einem Gedicht von T. S. Eliot gibt es einen Vogel, der behauptet, daß die Menschheit nicht viel Wirklichkeit ertragen kann; aber der Vogel irrt sich. Ein Mensch kann das ganze Gewicht des Universums achtzig Jahre lang ertragen. Das Unwirkliche erträgt er nicht.