Выбрать главу

Orr seufzte, machte eine weite, ausholende Geste mit den Armen, schlug die Augen auf und erwachte. Haber löste mit wenigen geübten Bewegungen die Elektroden von seiner Kopfhaut. »Fühlen Sie sich gut?« fragte er jovial und selbstsicher.

»Bestens.«

»Und Sie haben geträumt. Soviel kann ich Ihnen sagen. Können Sie mir den Traum erzählen?«

»Ein Pferd«, sagte Orr heiser und immer noch ein wenig schlaftrunken. Er setzte sich auf. »Er handelte von einem Pferd. Von dem da.« Und er winkte mit der Hand zu dem fenstergroßen Wandbild, das Habers Büro zierte, eine Fotografie des berühmten Rennhengstes Tammany Hall, der in einem grasbewachsenen Pferch herumtollte.

»Was haben Sie über das Pferd geträumt?« fragte Haber zufrieden. Er war nicht sicher gewesen, ob die Hypnosuggestion schon bei der ersten Hypnose auf den Inhalt des Traums wirken würde.

»Es war … ich ging auf dieser Wiese spazieren, und das Pferd war eine Weile in weiter Ferne. Dann kam es zu mir galoppiert, und nach einem Moment wurde mir klar, daß es mich niedertrampeln würde. Aber ich hatte gar keine Angst. Ich überlegte mir, daß ich vielleicht seinen Zügel packen oder mich hinaufschwingen und es reiten könnte. Ich wußte, daß es mir an sich gar nichts tun konnte, weil es das Pferd auf Ihrer Fotografie hier war, kein echtes. Es war alles irgendwie ein Spiel … Dr. Haber, kommt Ihnen etwas an diesem Bild … irgendwie … ungewöhnlich vor?«

»Also manche Leute finden es übertrieben dramatisch für das Büro eines Seelenklempners, ein wenig überwältigend. Ein lebensgroßes Sexsymbol direkt gegenüber der Couch!« Er lachte.

»War es vor einer Stunde auch schon da? Ich meine, war da nicht eine Ansicht des Mount Hood, als ich hereinkam — bevor ich von dem Pferd geträumt habe?«

Großer Gott es war Mount Hood gewesen der Mann hatte recht.

Es war nicht Mount Hood gewesen es konnte nicht Mount Hood gewesen sein es war ein Pferd es war ein Pferd.

Es war ein Berg gewesen.

Ein Pferd es war ein Pferd es war —

Er sah George Orr an, sah ihn mit leerem Blick an, mehrere Sekunden mußten seit Orrs Frage vergangen sein, er durfte sich nicht verunsichern lassen, er mußte Vertrauen einflößen, er kannte die Lösung für alles.

»George, erinnern Sie sich daran, daß das Bild da eine Fotografie des Mount Hood gewesen ist?«

»Ja«, sagte Orr auf seine etwas traurige, aber unerschütterliche Art und Weise. »Ich erinnere mich. Er war es. Mit Schnee drauf.«

»Mhm.« Haber nickte abwägend, überlegend. Die schreckliche Kälte in seiner Magengrube hatte nachgelassen.

»Sie nicht?«

Die Augen des Mannes, deren Farbe so unergründlich, deren Blick aber so klar und direkt war: das waren die Augen eines Psychopathen.

»Nein, leider nicht. Es ist Tammany Hall, der dreifache Sieger von ’89. Ich vermisse die Pferderennen, es ist eine Schande, wie die niederen Arten durch unsere Nahrungsprobleme verdrängt werden. Natürlich ist ein Pferd der perfekte Anachronismus, aber ich mag das Bild; es besitzt Vitalität, Kraft — totale Selbsterkenntnis auf tierischer Ebene. Es stellt gewissermaßen ein Idealbild von dem dar, was ein Psychiater mit der Humanpsychologie anstrebt, ein Symbol. Es ist natürlich die Quelle meiner Suggestion für Ihren Traum, ich habe es zufällig betrachtet …« Haber warf einen scheelen Blick zu dem Wandbild. Natürlich war es das Pferd. »Aber hören Sie, wenn Sie eine dritte Meinung hören wollen, fragen wir Miss Crouch; sie arbeitet seit zwei Jahren hier.«

»Sie wird sagen, daß es immer ein Pferd gewesen ist«, sagte Orr ruhig, aber resigniert. »Und das war es auch immer. Seit meinem Traum. Ich dachte, Sie hätten, da Sie mir den Trauminhalt suggeriert haben, eine doppelte Erinnerung, so wie ich. Aber dem ist wohl nicht so.« Aber er hatte den Kopf nicht mehr gesenkt und betrachtete Haber wieder mit dieser Klarheit, dieser Vorahnung, dieser stummen und verzweifelten Bitte um Hilfe.

Der Mann war krank. Er mußte geheilt werden. »Ich möchte, daß Sie wiederkommen, George, und zwar morgen, wenn möglich.«

»Naja, ich arbeite —«

»Gehen Sie eine Stunde früher und kommen Sie um vier Uhr zu mir. Sie sind in FTB. Sagen Sie das Ihrem Chef, und keine falsche Scham. Irgendwann einmal waren zweiundachtzig Prozent der Bevölkerung in FTB, ganz zu schweigen von den einunddreißig Prozent, die ZTB bekommen. Seien Sie also um vier Uhr hier, dann machen wir uns an die Arbeit. Wir werden Resultate erzielen, wissen Sie. Hier haben Sie ein Rezept für Meprobamat; es wird Ihre Träume unterdrücken, ohne den paradoxen Schlaf völlig auszuschalten. Sie können den Vorrat alle drei Tage am Medikamentenautomaten auffrischen lassen. Wenn Sie einen Traum oder ein anderes Erlebnis haben, das Sie erschreckt, rufen Sie mich an, Tag oder Nacht. Aber ich bezweifle es, wenn sie das einnehmen; und wenn Sie bereit sind, hart mit mir an dieser Sache zu arbeiten, werden Sie bald gar keine Medikamente mehr brauchen. Das ganze Problem mit Ihren Träumen wird sich erledigen und Sie sind erlöst. Richtig?«

Orr nahm die IBM-Rezeptkarte. »Das wäre eine Erleichterung für mich«, sagte er. Er lächelte ein zaghaftes, unglückliches, aber nicht humorloses Lächeln. »Noch etwas wegen dem Pferd«, sagte er.

Haber, der einen Kopf größer war, sah auf ihn herab.

»Es sieht aus wie Sie«, sagte Orr.

Haber blickte hastig zu dem Wandbild. Tatsächlich. Groß, gesund, haarig, rotbraun, im gestreckten Galopp —

»Vielleicht hatte das Pferd in Ihrem Traum Ähnlichkeit mit mir?« fragte er verschmitzt und jovial.

»So ist es«, sagte der Patient.

Als er fort war, setzte sich Haber und blickte nervös zum Wandbild der Fotografie von Tammany Hall. Es war wirklich zu groß für das Sprechzimmer. Verdammt, er wünschte, er könnte sich eine Praxis mit einem Fenster mit Aussicht leisten!

3

Jene, denen der Himmel hilft, nennen wir Söhne des Himmels. Sie erlernen dies nicht durch Lernen. Sie erarbeiten es sich nicht durch Arbeit. Sie enträtseln es nicht durch Vernunft. Das Verstehen vor dem einzuschränken, was nicht zu verstehen ist, ist eine große Leistung. Wer es nicht kann, wird durch die Geißel des Himmels vernichtet werden.

Dschuang-Dsi, XXIII

George Orr beendete seine Arbeit um 16:30 Uhr und ging zur Haltestelle der U-Bahn; er hatte kein Auto. Hätte er gespart, hätte er sich vielleicht einen VW Steamer und die Kraftfahrzeugsteuer darauf leisten können, aber wozu? Die Innenstadt war für Automobile gesperrt, und er wohnte in der Innenstadt. Er hatte zwar damals in den achtziger Jahren fahren gelernt, aber nie ein Auto besessen. Er fuhr mit der Vancouver-Bahn nach Portland zurück. Die Züge waren schon brechend voll; er stand außer Reichweite der Halteschlaufen oder Stangen und wurde lediglich vom Druck der Leiber auf allen Seiten gestützt und ab und an sogar von den Füßen gehoben, so daß er frei schwebte, wenn der Druck der Menge (c) größer wurde als die Schwerkraft (g). Ein Mann neben ihm, der eine Zeitung hochhielt, konnte die Arme gar nicht mehr senken und mußte mit in den Sportteil gedrücktem Gesicht ausharren. Die Schlagzeile: »GENERALMOBILMACHUNG NAHE DER AFGHANISCHEN GRENZE« und die Unterzeile »Bevorstehende Intervention Afghanistans« plärrten Orr sechs Haltestellen lang ins Gesicht. Der Zeitungsleser erkämpfte sich einen Weg hinaus und wurde durch zwei Tomaten auf einem grünen Plastikteller ersetzt, unter denen sich eine alte Dame in einem grünen Plastikmantel befand, die drei weitere Haltestellen lang auf Orrs linkem Fuß stand.

An der Haltestelle East Broadway stieg er aus und zwängte sich vier Häuserblocks weit durch die zunehmende Feierabendmenge bis zum Willamette East Tower, einer hohen, protzigen, schäbigen Säule aus Beton und Glas, die in dem Dschungel vergleichbarer Gebäude mit der Verbissenheit einer Pflanze um Licht und Luft kämpfte. Nur sehr wenig Licht und Luft drangen bis zur Straße herunter, und das bißchen war warm und von feinem Nieselregen erfüllt. Regen stellte eine alte Tradition von Portland dar, aber die Wärme — zwanzig Grad Celsius am zweiten März — war modern, eine Folge der Luftverschmutzung. Städtische und industrielle Emissionen waren nicht rechtzeitig genug eingedämmt worden, um die kumulativen Entwicklungen umzukehren, die sich bereits Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts angedeutet hatten; es würde noch mehrere Jahrhunderte dauern, bis das CO2 aus der Atmosphäre verschwunden war — wenn überhaupt. New York würde eines der größeren Opfer des Treibhauseffekts werden, da die Polkappen weiter abschmolzen und der Meeresspiegel anstieg; tatsächlich jedoch befand sich ganz Boswash in Gefahr. Aber es gab auch einen Ausgleich dafür. Der Pegel in der Bucht von San Francisco stieg an und würde alle Hunderte Quadratmeilen an Aufschüttungen und Müllhalden, die man seit 1848 hineingekippt hatte, bedecken. Was Portland anging, achtzig Meilen und ein Küstengebirgszug lagen zwischen der Stadt und dem Meer, es wurde nicht vom ansteigenden Wasser bedroht: Nur vom fallenden Wasser.