Es hatte im westlichen Oregon immer viel geregnet, aber jetzt regnete es ununterbrochen, gleichmäßig, konstant. Es war, als würde man in einem ewigen Wolkenbruch warmer Suppe leben.
Die neuen Städte — Umatilla, John Day, French Glen — lagen östlich der Cascades in einem Gebiet, das vor dreißig Jahren Wüste gewesen war. Im Sommer war es dort immer noch sengend heiß, aber die Niederschlagsmenge lag nur bei eintausend Millimetern, in Portland waren es immerhin zweitausendzweihundert Millimeter. Intensiver Ackerbau lag im Bereich des Möglichen: die Wüste blühte und gedieh. French Glen besaß bereits eine Bevölkerung von sieben Millionen. Portland, mit drei Millionen und ohne Wachstumspotential, war im unaufhaltsamen Lauf des Fortschritts längst weit zurückgefallen. Das war nichts Neues für Portland. Und was machte es schon aus? Unterernährung, Überbevölkerung und ein hohes Maß an Umweltverschmutzung gehörten zur Tagesordnung. In den alten Städten gab es mehr Skorbut, Typhus und Hepatitis, in den neuen mehr Bandenkriminalität, Verbrechen und Morde. In den einen regierten die Ratten, in den anderen die Mafia. George Orr blieb in Portland, weil er sein ganzes Leben hier verbracht und keinen Grund zu der Annahme hatte, daß das Leben anderswo besser oder anders sein würde.
Miss Crouch, die desinteressiert lächelte, führte ihn gleich hinein. Orr hatte geglaubt, daß die Praxen von Psychiatern immer einen Vorder- und einen Hintereingang hätten, wie ein Kaninchenbau. Hier schien es nicht so zu sein, dennoch bezweifelte er, daß Patienten, die kamen und gingen, einander begegnen würden. In der Uniklinik hatten sie gesagt, daß Dr. Haber nur eine kleine psychiatrische Praxis besaß und sich mehr der Forschung widmete. Das hatte ihm einen Eindruck von Erfolg und Exklusivität vermittelt, den das selbstbewußte und joviale Gebaren des Arztes bestätigte. Aber heute war er nicht mehr so nervös und sah mehr. Die Praxis strahlte nicht die vornehme Leder-und-Platin-Atmosphäre finanziellen Erfolgs aus, aber auch nicht die heimelige Schlampigkeit wissenschaftlichen Desinteresses. Stühle und Couch waren aus Plastik, der Schreibtisch aus Metall mit einer dünnen Holzimitatschicht aus Resopal. Überhaupt nichts machte einen echten Eindruck. »Guten Tag!« polterte Dr. Haber mit seinen weißen Zähnen, der rotbraunen Mähne und der hünenhaften Gestalt.
Diese Fröhlichkeit war ungespielt, aber übertrieben. Der Mann besaß eine Herzlichkeit, ein extrovertiertes Gemüt, die echt waren; aber sie wurden übertüncht von professionellen Manierismen und durch den einstudierten Einsatz des Arztes verzerrt. Orr spürte den Wunsch, gemocht zu werden, und den Drang zu helfen in dem Arzt; der Doktor, fand er, war nicht ganz davon überzeugt, daß andere Menschen existierten, und wollte ihre Existenz beweisen, indem er ihnen half. Er posaunte sein »Guten Tag!« deshalb so laut hinaus, weil er nie sicher war, ob er eine Antwort bekommen würde. Orr wollte etwas Freundliches sagen, aber nichts Persönliches schien angemessen. »Sieht so aus, als würde Afghanistan in den Krieg eintreten«, sagte er.
»Mhm, das steht schon seit letztem August in den Karten.« Er hätte wissen müssen, daß der Arzt in Sachen Weltpolitik besser informiert sein würde als er selbst; er war generell nur halb informiert und hinkte den Ereignissen drei Wochen hinterher. »Ich glaube aber nicht, daß das die Alliierten erschüttern wird«, fuhr Haber fort, »es sei denn, Pakistan stellt sich auf die Seite des Irans. Dann muß Indien Isrägypten mehr als nur der Form halber unterstützen.« Das war Fernsehsprech für die neue Allianz zwischen der Neuen Arabischen Republik und Israel. »Ich glaube, Guptas Rede in Delhi deutet darauf hin, daß er sich auf diese Eventualität vorbereitet.«
»Es zieht immer größere Kreise«, sagte Orr, der sich unwürdig und ungebildet vorkam. »Der Krieg, meine ich.« Er kam sich ziemlich dumm vor.
»Beunruhigt Sie das?«
»Beunruhigt es Sie nicht?«
»Irrelevant«, sagte der Arzt und lächelte sein breites, haariges Bärengrinsen, wie ein großer Bärengott; aber seit gestern war er immer noch mißtrauisch.
»Ja, mich beunruhigt es.« Doch Haber hatte sich diese Antwort nicht verdient; der Fragende kann sich nicht von der Frage distanzieren und Objektivität vorschützen — als wären die Antworten ein Objekt. Aber Orr sprach diese Gedanken nicht aus; er war in den Händen eines Arztes, und der Arzt wußte doch ganz gewiß, was er tat.
Orr ging von Natur aus davon aus, daß die Leute wußten, was sie taten, weil er meist das Gefühl hatte, daß er selbst es nicht wußte.
»Gut geschlafen?« wollte Haber wissen und nahm unter dem linken Hinterhuf von Tammany Hall Platz.
»Prima, danke.«
»Was halten Sie von einem weiteren Ausflug in den Palast der Träume?« Er maß Orr mit stechenden Blicken.
»Klar, darum bin ich ja hier, denke ich.«
Orr sah Haber aufstehen und um den Schreibtisch herumkommen, er sah die große Hand nach seinem Hals greifen, und dann passierte nichts.
»… George …«
Sein Name. Wer rief? Eine unbekannte Stimme. Trockenes Land, trockene Luft, das Dröhnen einer fremden Stimme in seinem Ohr. Tageslicht, keine Orientierung. Kein Weg zurück. Er wachte auf.
Der halb vertraute Raum; der halb vertraute große Mann in seiner voluminösen rostroten Samtjacke, mit dem rotbraunen Bart, dem weißen Lächeln und den milchigen dunklen Augen. »Es sah laut EEG nach einem kurzen Traum aus, aber einem sehr lebhaften«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Schießen Sie los. Je schneller die Erinnerung rekapituliert wird, desto vollständiger ist sie.«
Orr richtete sich auf, fühlte sich aber ein wenig benommen. Er saß auf der Couch, wie war er dorthin gekommen? »Mal sehen. Viel war es nicht. Wieder das Pferd. Haben Sie mir noch einmal befohlen, von dem Pferd zu träumen, als ich in Hypnose war?«
Haber schüttelte den Kopf, was weder ja noch nein bedeuten sollte, und hörte zu.
»Also, dies hier war ein Stall. Dieses Zimmer. Stroh und ein Futtertrog und eine Mistgabel in der Ecke, und so weiter. Das Pferd war darin. Es …«
Habers erwartungsvolles Schweigen duldete keine Ausflüchte.
»Es hat einen enormen Haufen Kot fallen lassen. Braun, dampfend. Pferdescheiße. Sah ein wenig wie der Mount Hood aus, mit dem kleinen Höcker an der Nordseite und allem. Sie lag überall auf dem Teppich und bedrängte mich irgendwie, darum sagte ich: ›Es ist nur das Bild des Bergs.‹ Ich nehme an, dann wachte ich auf.«
Orr hob den Kopf und blickte an Dr. Haber vorbei zu dem Wandbild hinter ihm, der Fotografie von Mount Hood.
Es war ein friedliches Bild in gedämpften, künstlerischen Farben: der Himmel grau, der Berg hellbraun oder rötlich braun mit weißen Flecken um den Gipfel herum, der Vordergrund ganz dunstige, formlose Baumkronen.