Der Arzt sah das Wandbild nicht an. Er betrachtete Orr mit diesen stechenden, milchigen Augen. Er lachte, als Orr fertig war, nicht lange oder laut, aber vielleicht ein wenig aufgeregt.
»Wir machen Fortschritte, George!«
»Tatsächlich?«
Orr kam sich überrumpelt und töricht vor, wie er so auf der Couch saß und sich immer noch ein wenig schwindelig von seinem Schlummer fühlte, nachdem er dort geschlafen hatte, wahrscheinlich mit offenem Mund und schnarchend, hilflos, während Haber die geheimen Kurven und Muster seiner Gehirntätigkeit beobachtete und ihm vorschrieb, was er träumen sollte. Er fühlte sich bloßgestellt und benutzt. Und zu welchem Zweck?
Offenkundig hatte der Arzt keine Erinnerung mehr an das Wandbild mit dem Pferd, und auch nicht an das Gespräch, das sie darüber geführt hatten; er war ganz und gar in dieser neuen Gegenwart, und seine sämtlichen Erinnerungen führten zu ihr. Also konnte er überhaupt nichts bewirken. Dennoch schritt er jetzt im Zimmer auf und ab und redete noch lauter als gewöhnlich. »Na also! a) Sie können auf Befehl träumen und tun es auch, Sie befolgen die Hypnosuggestionen; b) Sie reagieren prächtig auf den Verstärker. Demzufolge können wir schnell und wirkungsvoll zusammenarbeiten, ohne Narkose. Ich arbeite lieber ohne Medikamente. Was das Gehirn von sich aus macht, ist unendlich faszinierender und komplexer als jede Reaktion, die durch chemische Stimulation ausgelöst werden kann; darum habe ich den Verstärker entwickelt, um dem Gehirn ein Mittel zur Selbststimulation zu geben. Die kreativen und therapeutischen Ressourcen des Gehirns — ob im Wachsein, Schlafen oder Träumen — sind praktisch unendlich. Wenn wir nur die Schlüssel zu allen passenden Schlössern finden können. Die Macht der Träume allein kann sich niemand träumen lassen!« Orr lächelte unbehaglich; das schien ihm nur allzu wahr zu sein. »Ich bin jetzt sicher, daß der Weg Ihrer Therapie in diese Richtung führt, Ihre Träume zu benutzen, anstatt ihnen auszuweichen und sie zu meiden. Sich Ihren Ängsten zu stellen und sie mit meiner Hilfe zu erkennen. Sie fürchten sich vor Ihrem eigenen Verstand, George. Das ist eine Angst, mit der kein Mensch leben kann. Aber das müssen Sie auch nicht. Sie haben die Hilfe, die Ihr eigener Verstand Ihnen geben kann, wie Sie ihn selbst benutzen und kreativen Zwecken zuführen können, noch gar nicht begriffen. Sie dürfen sich nur nicht vor Ihren eigenen Geisteskräften verstecken, Sie dürfen sie nicht unterdrücken, sondern müssen sie freisetzen. Das können wir gemeinsam schaffen. Also, kommt Ihnen das nicht auch richtig, wie die richtige Vorgehensweise vor?«
»Ich weiß nicht«, sagte Orr.
Als Haber davon sprach, die Kräfte seines Verstands zu nutzen, anzuwenden, hatte Orr einen Augenblick geglaubt, daß der Arzt seine Gabe, durch Träumen die Realität zu verändern, meinen mußte; aber wenn er das meinte, hätte er es doch ganz sicher klar und deutlich gesagt? Da Haber wußte, wie sehr Orr auf Bestätigung angewiesen war, würde er sie ihm gewiß nicht absichtlich verweigern.
Orr reagierte betrübt. Die Einnahme von Betäubungs- und Aufputschmitteln hatte ihn emotional aus dem Gleichgewicht gebracht; das wußte er und versuchte darum, seine Gefühle zu kontrollieren und dagegen anzukämpfen. Aber diese Enttäuschung entzog sich seiner Kontrolle. Er hatte sich, wie ihm jetzt klar wurde, ein wenig Hoffnung gegönnt. Gestern war er überzeugt gewesen, daß der Arzt die Veränderung vom Berg zum Pferd bemerkt hatte. Es hatte ihn weder überrascht noch beunruhigt, daß Haber im ersten Schock versucht hatte, sein Wissen zu verheimlichen; zweifellos hatte er es nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen und anerkennen können. Orr hatte ebenfalls ziemlich lange gebraucht, bis er akzeptierte, daß er etwas Unmögliches vollbrachte. Aber er hatte sich in der Hoffnung gewogen, daß Haber, der den Traum kannte und zugegen war, als er geträumt wurde, mitten im Zentrum, die Veränderung doch sehen, sich erinnern und sie bestätigen könnte.
Zwecklos. Kein Ausweg. Orr war wieder da, wo er seit Monaten war — allein: Er wußte, daß er verrückt war, und daß er nicht verrückt war, beides gleichzeitig und gleichermaßen intensiv. Das reichte aus, ihn in den Wahnsinn zu treiben.
»Wäre es möglich«, sagte er zaghaft, »daß Sie mir eine posthypnotische Suggestion geben, nicht mehr wirkungsvoll zu träumen? Schließlich können Sie ja auch suggerieren, daß ich es tue … Auf die Weise käme ich wenigstens von den Medikamenten los, jedenfalls eine Weile.«
Haber ließ sich zusammengekauert wie ein Bär hinter seinem Schreibtisch nieder. »Ich bezweifle sehr, daß das wirken würde, und sei es nur für eine Nacht«, sagte er schlicht und einfach. Und dann, plötzlich wieder schallend: »Ist das nicht der vergebliche Weg, den Sie schon ausprobiert haben, George? Medikamente oder Hypnose, beides läuft auf Unterdrückung hinaus. Sie können nicht vor Ihrem eigenen Verstand davonlaufen. Das begreifen Sie, sind aber noch nicht bereit, es zu akzeptieren. Das macht nichts. Sehen Sie es einmal so: Sie haben jetzt schon zweimal geträumt, genau hier, auf dieser Couch. War das so schlimm? Hat es irgendwelchen Schaden angerichtet?«
Orr schüttelte stumm den Kopf; er war zu niedergeschlagen für eine Antwort.
Haber redete weiter, und Orr versuchte, ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken. Er redete jetzt von Tagträumen, ihrer Beziehung zu den anderthalbstündigen Traumzyklen der Nacht, ihrem Nutzen und Sinn. Er fragte Orr, ob ihm eine bestimmte Art von Tagtraum besonders zusagen würde. »Zum Beispiel«, sagte er, »träume ich häufig von Heldentum. Ich bin der Held. Ich rette ein Mädchen, oder einen Astronautenkollegen, eine belagerte Stadt oder einen ganzen verdammten Planeten. Messiasträume, Großtatenträume. Haber rettet die Welt! Sie machen ziemlich viel Spaß — solange ich ihnen den Stellenwert beimessen kann, der ihnen zukommt. Wir brauchen alle die Seelenmassage, die uns Tagträume geben, aber wenn wir anfangen, sie für bare Münze zu nehmen, dann sind unsere Realitätsparameter ein bißchen durcheinander geraten … Dann gibt es die Tagträume vom Typ Südseeinsel — viele kleine Angestellte mittleren Alters haben sie. Und die vom Typ Edelmut-Leiden-Märtyrer, und die verschiedenen romantischen Phantasien der Pubertät, und die sadomasochistischen Tagträume, und so weiter. Die meisten Menschen sind mit allen Varianten vertraut. Wir waren schon fast alle einmal in der Arena und haben den Löwen getrotzt, mindestens einmal, oder haben eine Bombe geworfen und unsere Feinde vernichtet, oder eine durchgeistigte Jungfrau von einem sinkenden Schiff gerettet oder Beethovens zehnte Symphonie für ihn komponiert. Welchen Typ bevorzugen Sie denn?«
»Oh — Flucht«, sagte Orr. Er mußte sich wirklich zusammenreißen und diesem Mann antworten, der doch versuchte, ihm zu helfen. »Ab durch die Mitte. Fort von …«
»Fort von Ihrem Job, von der tagtäglichen Tretmühle?«
Das schien ihm Haber nicht zu glauben, daß er mit seinem Job zufrieden war. Haber war offenkundig von einem ausgeprägten Ehrgeiz erfüllt und konnte sich nicht vorstellen, daß das nicht auf alle Männer zutraf.
»Eigentlich mehr von der Stadt, den Menschenmassen, meine ich. Überall zu viele Leute. Die Schlagzeilen. Alles.«
»Südsee?« fragte Haber mit seinem Bärengrinsen.
»Nein. Hier. Ich habe keine besonders ausgeprägte Phantasie. Ich tagträume davon, daß ich eine Blockhütte irgendwo abseits der Städte besitze, vielleicht sogar im Küstenstreifen, wo noch einige der alten Wälder existieren.«
»Schon mal daran gedacht, tatsächlich eine zu kaufen?«
»Der Morgen Land kostet in den billigsten Naherholungsgebieten, unten in der Wüste des südlichen Oregon, achtunddreißigtausend Dollar. Für ein Areal mit Meeresblick reichen die Preise bis zu vierhunderttausend pro Parzelle.«
Haber gab einen Pfiff von sich. »Ich sehe, Sie haben schon mit dem Gedanken gespielt — und sind bei Ihren Tagträumen geblieben. Gott sei Dank sind die wenigstens umsonst, hm! Und, fühlen Sie sich fit für einen weiteren Versuch? Wir haben noch fast eine halbe Stunde.«