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In Fionas Zimmer am Ende des Flurs brannte noch Licht, und er ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, um sie ja nicht zu stören. Dann schaltete er das Licht im Studierzimmer ein und blieb einen Moment stehen, um das Ausmaß seiner Aufgabe auf sich wirken zu lassen.

Die Wand war exemplarisch für das Denken des Reverends. Es war eine Korkplatte, die eine ganze Wand des Zimmers einnahm, etwa sechseinhalb mal vier Meter. Der ursprüngliche Kork verschwand beinahe bis zur Unsichtbarkeit unter den zahllosen Schichten aus Papieren, Notizen, Fotos, Drucken, Rechnungen, Quittungen, Vogelfedern, abgerissenen Briefumschlagsecken mit interessanten Briefmarken, Adressetiketten, Schlüsselringen, Postkarten, Gummis und anderem Kleinkram, der entweder mit Heftzwecken oder Bindfäden an der Wand befestigt war.

An manchen Stellen war das Sammelsurium zwölf Schichten dick, doch der Reverend war stets in der Lage gewesen, den Finger zielsicher auf den Gegenstand zu legen, den er suchte. Roger glaubte, dass die Wand nach einem Prinzip organisiert sein musste, das so subtil war, dass es sich nicht einmal amerikanischen NASA-Wissenschaftlern erschließen würde.

Roger warf einen skeptischen Blick auf die Wand. Es gab keinen logischen Ausgangspunkt. Er griff zögernd nach einer Liste mit Daten der bischöflichen Generalversammlung, wurde aber abgelenkt, weil ihm darunter ein mit Wachsmalstift gezeichneter Drache ins Auge fiel, dem kunstvolle Rauchwölkchen aus den geblähten Nüstern quollen und grüne Flammen aus dem klaffenden Maul schossen.

ROGER stand in großen, krakeligen Blockbuchstaben unten auf dem Blatt. Er erinnerte sich vage daran, wie er erklärt hatte, dass der Drache grünes Feuer spuckte, weil er nichts als Spinat fraß. Roger ließ den bischöflichen Terminplan wieder an seinen Platz zurückfallen und drehte der Wand den Rücken zu. Damit konnte er sich später befassen.

Der Schreibtisch, ein gewaltiger Sekretär mit einem Rollverschluss, kam ihm vergleichsweise harmlos vor. Mit einem Seufzer zog Roger den abgenutzten Schreibtischsessel herbei und setzte sich, um zu versuchen, sich einen Reim auf das zu machen, was der Reverend aufbewahrenswert gefunden hatte.

Ein Stapel Rechnungen, die noch zu bezahlen waren. Ein weiterer Stapel offiziell aussehender Dokumente: Autopapiere, Vermessungsberichte, Zertifikate der Baubehörde. Ein weiterer Stapel mit historischen Notizen und Urkunden. Wieder einer mit Erbstücken der Familie. Und schließlich einer – bei weitem der größte – mit nutzlosem Kram.

Er war so sehr in die Arbeit vertieft, dass er weder hörte, wie sich hinter ihm die Tür öffnete, noch, wie sich Schritte näherten. Plötzlich tauchte eine große Teekanne neben ihm auf dem Schreibtisch auf.

»Häh?« Blinzelnd richtete er sich auf.

»Dachte, Sie möchten vielleicht Tee, Mr. Wake –, ich meine, Roger.« Fiona stellte ein kleines Tablett mit einer Tasse, einer Untertasse und einem Teller Plätzchen neben ihn.

»Oh, danke.« Er hatte tatsächlich Hunger und schenkte Fiona ein freundliches Lächeln, das ihr das Blut in die runden, hellen Wangen trieb. Dadurch allem Anschein nach ermutigt, entfernte sie sich nicht, sondern hockte sich auf die Ecke des Schreibtischs und beobachtete gebannt, wie er seiner Arbeit nachging und dabei an einem Schokoladenplätzchen kaute.

Mit dem obskuren Gefühl, ihre Gegenwart irgendwie zur Kenntnis nehmen zu müssen, hielt Roger ein halb gegessenes Plätzchen hoch und murmelte: »Gut.«

»Nicht wahr? Ich habe sie gebacken.« Fiona errötete noch stärker. Eine attraktive junge Frau, Fiona. Klein, rundlich mit dunklen Locken und großen braunen Augen. Er ertappte sich bei der Frage, ob Brianna Randall wohl kochen konnte, und schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben.

Fiona, die dies anscheinend als ungläubige Geste missverstand, beugte sich dichter zu ihm herüber. »Nein, wirklich«, sagte sie beharrlich. »Eins von Omas Rezepten. Sie hat immer gesagt, der Reverend hätte sie besonders gern gegessen.« Die großen braunen Augen wurden ein wenig feucht. »Sie hat mir ihre ganzen Kochbücher hinterlassen. Bin schließlich die einzige Enkelin.«

»Das mit Ihrer Großmutter hat mir leidgetan«, sagte Roger aufrichtig. »Aber es ist schnell gegangen, oder?«

Fiona nickte traurig. »Oh, aye. Den ganzen Tag ging es ihr gut, dann hat sie nach dem Abendessen gesagt, sie wäre ein bisschen müde, und ist ins Bett gegangen.« Sie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »Sie ist eingeschlafen und nie wieder aufgewacht.«

»Ein schöner Tod«, sagte Roger. »Ich bin froh, dass es so gewesen ist.« Mrs. Graham war schon eine Institution im Pfarrhaus gewesen, als Roger als verängstigter, frisch verwaister Knirps hier eingezogen war. Sie war damals eine Witwe in den mittleren Jahren gewesen, und ihre eigenen Kinder waren bereits erwachsen, doch sie hatte es nicht an standhafter mütterlicher Zuneigung mangeln lassen, wenn Roger in den Ferien heim ins Pfarrhaus kam. Sie und der Reverend hatten ein kurioses Paar abgegeben, und doch hatten sie aus dem alten Haus definitiv ein Zuhause gemacht.

Von seinen Erinnerungen gerührt, hob Roger den Arm und drückte Fiona die Hand. Sie erwiderte den Druck, und plötzlich schmolzen ihre braunen Augen dahin. Ihr kleiner Rosenknospenmund öffnete sich ein wenig, und sie kam näher, bis er ihren Atem warm an seinem Ohr spürte.

»Äh, danke«, entfuhr es Roger. Er entzog ihr seine Hand, als hätte er sich verbrannt. »Vielen Dank. Für den … äh … den Tee und alles. Gut. Er war gut, sehr gut. Danke.« Er wandte sich ab und griff hastig nach einem weiteren Papierstapel, um seine Verwirrung zu überspielen. Wahllos zog er eine Rolle mit Zeitungsausschnitten aus einem der Ablagefächer.

Er rollte die vergilbten Ausschnitte auseinander und breitete sie auf dem Schreibtisch aus, wo er sie mit den Handflächen festhielt. Mit einem übertriebenen Stirnrunzeln der Konzentration beugte er den Kopf tiefer über den fleckigen Text. Kurz darauf erhob sich Fiona mit einem tiefen Seufzer, und ihre Schritte entfernten sich, Roger blickte nicht auf.

Er seufzte seinerseits tief, schloss kurz die Augen und sprach ein kurzes Dankgebet, weil er noch einmal davongekommen war. Ja, Fiona war attraktiv. Ja, sie war zweifellos eine wunderbare Köchin. Außerdem war sie vorwitzig, aufdringlich, irritierend und hatte nichts als Heiraten im Sinn. Wenn er diese Rosenhaut noch einmal berührte, würden sie nächsten Monat das Aufgebot bestellen. Doch wenn hier ein Aufgebot bestellt wurde, würde der Name, der neben dem seinen im Pfarrbuch auftauchte, Brianna Randall lauten, wenn Roger dabei mitzureden hatte.

Während er sich noch fragte, wie viel er dabei tatsächlich mitzureden haben würde, öffnete Roger die Augen … und kniff sie wieder zusammen. Denn was er vor sich hatte, war der Name, den er sich gerade auf einer Heiratserlaubnis vorgestellt hatte – Randall.

Natürlich nicht Brianna Randall. Claire Randall. Die Überschrift lautete ZURÜCK VON DEN TOTEN. Darunter war ein Bild von Claire Randall. Sie war zwar zwanzig Jahre jünger, sah aber nicht viel anders aus als jetzt, wenn man ihren Gesichtsausdruck einmal außer Acht ließ. Sie war in einem Krankenhausbett fotografiert worden. Kerzengerade saß sie da, mit wildem Haar, die zarten Lippen wie eine Eisenfalle geschlossen, und ihre außergewöhnlichen Augen funkelten direkt in die Kamera.

Erschrocken blätterte Roger die Ausschnitte hastig durch, dann begann er von vorn und las sie mit größerer Sorgfalt. Die Zeitungen hatten die Geschichte zwar so sensationell wie möglich aufgebläht, doch die Fakten waren spärlich.

Claire Randall, die Ehefrau des prominenten Historikers Dr. Franklin W. Randall, war im späten Frühjahr 1946 während eines Urlaubs in Inverness verschwunden. Man hatte zwar den Wagen gefunden, mit dem sie unterwegs gewesen war, doch die Frau blieb spurlos verschwunden. Nachdem sich alle Suchanstrengungen als fruchtlos erwiesen hatten, waren die Polizei sowie der gramerfüllte Ehemann letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass Claire Randall ermordet worden sein musste, vielleicht von einem Landstreicher, und dass ihre Leiche irgendwo in den Felshügeln dieser Gegend versteckt worden sein musste.