Выбрать главу

Und 1948 war Claire Randall zurückgekehrt. Verwahrlost und zerlumpt hatte man sie in der Nähe der Stelle gefunden, an der sie verschwunden war. Sie schien zwar körperlich gesund zu sein, wenn auch geringfügig unterernährt, doch Mrs. Randall war orientierungslos und konfus.

Bei der Vorstellung, dass Claire Randall irgendwie konfus sein könnte, zog Roger die Augenbrauen hoch. Er blätterte die restlichen Ausschnitte durch, doch sie enthielten kaum mehr als die Information, dass man Mrs. Randall im örtlichen Krankenhaus gegen den Schock und die Folgen der Strapazen behandelte. Einige Fotos zeigten den vermutlich überglücklichen Ehemann Frank Randall. Er sah eher verdattert als überglücklich aus, dachte Roger kritisch, nicht, dass man ihm das verübeln konnte.

Neugierig betrachtete er die Fotos. Frank Randall war ein schlanker, attraktiver Mann von aristokratischem Aussehen gewesen. Dunkelhaarig und von einer verwegenen Eleganz, die sich in seiner Körperhaltung ausdrückte, als ihn der Fotograf auf dem Weg zu seiner zurückgewonnenen Frau überrascht hatte.

Rogers Finger folgte der Kontur des langen, schmalen Kinns und der Rundung des Schädels, und er begriff, dass er den Vater nach Spuren seiner Tochter absuchte. Fasziniert von diesem Gedanken, erhob er sich und holte eins von Frank Randalls Büchern aus dem Regal. Hinten im Schutzumschlag fand er ein besseres Bild. Das Autorenfoto zeigte Frank Randall frontal und in Farbe. Nein, sein Haar war definitiv dunkelbraun, nicht rot. Diese brennende Glorie musste von einem Großvater oder einer Großmutter gekommen sein, zusammen mit den dunkelblauen Augen, die schräg standen wie die einer Katze. Sie waren wunderschön, hatten aber nichts mit den Augen ihrer Mutter gemeinsam. Und auch nichts mit denen ihres Vaters. Sosehr er es auch versuchte, er konnte keine Spur der flammenden Göttin im Gesicht des berühmten Historikers sehen.

Mit einem Seufzer schloss er das Buch und legte die Zeitungsausschnitte wieder zusammen. Er musste wirklich mit diesen Grübeleien aufhören und sich sputen, sonst würde er in einem Jahr noch hier sitzen.

Er war im Begriff, die Ausschnitte auf den Stapel zu legen, den er verwahren wollte, als ihm einer ins Auge fiel, der VON DEN ELFEN ENTFÜHRT? überschrieben war. Oder vielmehr nicht der Ausschnitt, sondern das Datum, das genau über der Schlagzeile stand. 6. Mai 1948.

Er legte den Zeitungsausschnitt sacht aus der Hand, als wäre er eine Bombe, die in seinen Fingern explodieren könnte. Er schloss die Augen und versuchte, sich an seine Unterhaltung mit den Randalls zu erinnern. »Man darf in Massachusetts erst ab zwanzig Alkohol trinken«, hatte Claire gesagt. »Brianna hat erst in sieben Monaten Geburtstag.« Also neunzehn. Brianna Randall war neunzehn.

Weil er nicht so schnell zurückrechnen konnte, erhob er sich und wühlte sich durch den ewigen Kalender, den der Reverend ein wenig abseits an seiner überfüllten Wand hängen hatte. Er fand das Datum, und dann stand er da, den Finger auf das Datum gepresst, und das Blut sackte ihm aus dem Gesicht.

Als Claire Randall nach ihrem mysteriösen Verschwinden schließlich wieder auftauchte, war sie verwahrlost, unterernährt, konfus … und schwanger.

Irgendwann schlief Roger doch noch ein, doch weil er so lange aufgeblieben war, erwachte er erst spät mit roten Augen und beginnenden Kopfschmerzen, an denen weder eine kalte Dusche noch Fionas Gezwitscher beim Frühstück viel ändern konnte.

Das Gefühl war so drückend, dass er seine Arbeit liegen ließ und aus dem Haus ging, um einen Spaziergang zu machen. Während er durch den leichten Regen schritt, stellte er fest, dass die frische Luft zwar gegen den Kopfschmerz half, dass sie ihm aber auch den Kopf so weit klärte, dass er wieder über die möglichen Schlussfolgerungen seiner Entdeckung von gestern Abend nachzudenken begann.

Brianna wusste es nicht. Das war klar daran zu erkennen, wie sie von ihrem verstorbenen Vater sprach – oder von dem Mann, den sie für ihren Vater hielt, Frank Randall. Und vermutlich wollte Claire auch nicht, dass sie es erfuhr, sonst hätte sie es ihrer Tochter ja erzählt. Es sei denn, diese Schottlandreise war als Vorspiel zu einem solchen Geständnis gedacht? Der tatsächliche Vater musste Schotte gewesen sein; Claire war schließlich in Schottland verschwunden und wieder aufgetaucht. Lebte er noch hier?

Das war ein markerschütternder Gedanke. Hatte Claire ihre Tochter nach Schottland gebracht, um sie ihrem tatsächlichen Vater vorzustellen? Roger schüttelte skeptisch den Kopf. Das wäre verdammt riskant gewesen. Es konnte Brianna schließlich nur zutiefst verwirren, und für Claire selbst musste es furchtbar schmerzhaft sein. Und dem Vater würde es einen Mordsschrecken einjagen. Brianna hing eindeutig sehr an Frank Randall. Was würde sie empfinden, wenn ihr klar wurde, dass der Mann, den sie ihr Leben lang geliebt und vergöttert hatte, in Wirklichkeit gar nicht mit ihr verwandt war?

Roger bedauerte alle Beteiligten, ihn selbst mit eingeschlossen. Er hatte nicht darum gebeten, in dieser Angelegenheit eine Rolle zu spielen, und er wünschte sich die selige Ahnungslosigkeit von gestern zurück. Er mochte Claire Randall, sehr sogar, und der Gedanke, dass sie fremdgegangen war, missfiel ihm. Gleichzeitig jedoch verachtete er sich für diese altmodische Sentimentalität. Wer wusste schon, wie ihr Leben mit Frank Randall gewesen war? Vielleicht hatte sie ja gute Gründe gehabt, mit einem anderen davonzulaufen. Aber warum war sie dann zurückgekommen?

Verschwitzt und mürrisch wanderte Roger zum Haus zurück. Im Flur zog er seine Jacke aus und ging nach oben, um ein Bad zu nehmen. Manchmal stellte das seinen Seelenfrieden wieder her, und den hatte er jetzt bitter nötig.

Er fuhr mit der Hand über die Reihe der Kleiderbügel in seinem Schrank und tastete nach der flauschigen Schulter seines weißen Frotteebademantels. Dann hielt er einen Moment inne, griff stattdessen tief in den Schrank und schob die Kleiderbügel beiseite, bis er den einen zu fassen bekam, den er wollte.

Liebevoll betrachtete er den schäbigen alten Morgenrock. Der gelbe Seidenstoff hatte sich ocker verfärbt, doch die bunten Pfauen leuchteten wie eh und je; die Schwänze unbekümmert zu hochherrschaftlichen Rädern aufgestellt, blickten sie dem Betrachter mit ihren schwarzen Perlenaugen entgegen. Er hielt sich den weichen Stoff an das Gesicht, holte tief Luft und schloss die Augen. Der schwache Duft nach Borkum Riff und verschüttetem Whisky holte den Reverend auf eine Weise zurück, wie es nicht einmal die Kuriositätenwand seines Vaters vermochte.

So oft hatte er dieses tröstende, von einem Hauch Old Spice überlagerte Aroma gerochen, wenn er das Gesicht an die glatte Seide drückte und der Reverend die kräftigen Arme schützend um ihn schlang, ihm Zuflucht versprach. Die anderen Kleidungsstücke des alten Mannes hatte er Oxfam überlassen, doch irgendwie konnte er es nicht ertragen, sich von diesem Stück zu trennen.

Er gab einem Impuls nach und legte sich den Morgenrock um die nackten Schultern, etwas überrascht über die schwache Wärme des Stoffs, der sich wie die Liebkosung von Fingern auf seine Haut legte. Genießerisch bewegte er die Schultern unter der Seide, dann schlang er sich den Morgenrock eng um den Körper und band den Gürtel lässig zu einem Knoten.

Argwöhnisch auf der Hut vor möglichen Überfällen durch Fiona ging er durch den Flur in der oberen Etage zum Badezimmer. Der Heißwassergeiser stand am Kopfende der Badewanne wie der Wächter einer heiligen Quelle, wuchtig und immerwährend. Zu seinen Kindheitserinnerungen zählte auch der allwöchentliche Schrecken des Versuchs, den Geiser mit einem Klappfeuerzeug anzuzünden, um das Badewasser zu erhitzen. Das Gas zischte drohend an seinem Kopf vorbei, während seine aus Todesangst vor einer Explosion schlüpfrigen Hände wirkungslos von der Metallhülle des Feuerzeugs abrutschten.

Heute gurgelte der Geiser, der schon lange durch eine Operation an seinen mysteriösen Innereien automatisiert worden war, nur noch leise vor sich hin, und der brennende Gasring rauschte unsichtbar hinter einem Metallschild. Roger drehte den zersprungenen »Warm«-Hahn auf, so weit es ging, fügte eine halbe Drehung »Kalt« hinzu und stellte sich dann vor den Spiegel, um sich zu betrachten, während er darauf wartete, dass sich die Wanne füllte.