»Denkt doch einmal nach!« Er schüttelte mich sacht, dann ließ er mich los und trat zurück. Er stand mir im schwachen Gegenlicht der Kerzen gegenüber, so dass sein Gesicht nicht mehr als ein dunkler Umriss war. »Warum sollte ich es riskieren, den Palast zu betreten?«
Das war eine gute Frage. Sobald er den Schutz der Burg in seiner Verkleidung verließ, standen ihm die Straßen Edinburghs offen. Er hätte in den schmalen Gassen warten können, bis er mich auf einer meiner täglichen Expeditionen erspähte, und mir dort auflauern können. Der einzige Grund, das nicht zu tun, war der, den er anführte; dass er mich sprechen musste, ohne es zu riskieren, dass uns jemand sah oder belauschte.
Er sah den Entschluss in meinem Gesicht herandämmern, und seine Schultern entspannten sich ein wenig. Er breitete den Umhang aus und hielt ihn mir hin.
»Ihr habt mein Wort, dass Ihr unbehelligt von unserer Unterredung zurückkehren werdet, Madam.«
Ich versuchte, seine Miene zu lesen, doch von seinen schmalen, scharfen Zügen war nichts zu sehen. Sein Blick war unverwandt auf mich gerichtet und verriet mir nicht mehr, als es der meine im Spiegel getan hätte.
Ich griff nach dem Umhang.
»Also schön«, sagte ich.
Wir traten in das Zwielicht des Steingartens hinaus und passierten den Wachtposten mit einem Kopfnicken. Er erkannte mich, und es war nicht ungewöhnlich, dass ich abends noch einmal ausging, um mich um einen dringenden Krankheitsfall in der Stadt zu kümmern. Der Wächter warf einen scharfen Blick auf Jack Randall – normalerweise war es Murtagh, der mich begleitete, wenn Jamie es nicht konnte –, doch so, wie der Hauptmann gekleidet war, deutete nichts auf seine wahre Identität hin. Er erwiderte den Blick der Wache ungerührt, und das Tor des Palastes schloss sich hinter uns und entließ uns in die kalte Finsternis.
Vorhin hatte es geregnet, doch jetzt verzog sich das Unwetter. Dichte Wolken flogen in Fetzen über uns dahin, getrieben von einem Wind, der meinen Umhang beiseiteschlug und mir den Rock an die Beine klebte.
»Hier entlang.« Ich klammerte den schweren Samt eng um mich, senkte den Kopf in den Wind und folgte Jack Randalls hagerer Gestalt über den Weg, der durch den Steingarten führte.
Am unteren Ende blieben wir stehen, um uns rasch umzusehen, und überquerten dann hastig den Rasen vor dem Portal der Kirche.
Die Tür hatte sich verzogen und hing schief; sie war – wie das ganze Gebäude – seit Jahren nicht mehr benutzt worden, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu reparieren. Ich schob mich durch eine Barriere aus Laub und Abfällen und duckte mich aus dem flackernden Mondschein des Gartens in die absolute Dunkelheit der Kirche.
Oder doch nicht absolut; als sich meine Augen dann an die Dunkelheit gewöhnten, konnte ich die hohen Umrisse der Säulen sehen, die an den Seiten des Mittelschiffs entlangwanderten, und die zierlichen Steinmetzarbeiten des enormen Fensters am anderen Ende, dessen Glas zum Großteil verschwunden war.
Eine Bewegung im Schatten zeigte mir, wohin Randall gegangen war; ich bog zwischen die Säulen ein und fand ihn an einer Stelle, wo eine Nische, die einmal als Taufbecken gedient hatte, einen steinernen Vorsprung an der Wand zurückgelassen hatte. Rechts und links davon schimmerten helle Flecken an der Wand; die Gedächtnistafeln jener, die in der Kirche beerdigt waren. Andere lagen rechts und links des Mittelgangs in den Boden eingelassen, ihre Namen von den Schritten vieler Füße verschwommen.
»Also schön«, sagte ich. »Hier kann uns niemand hören. Was wollt Ihr von mir?«
»Euer Können als Ärztin und Eure vollständige Diskretion. Im Austausch gegen mein Wissen über die Bewegungen und Pläne des Heers der Königstreuen«, antwortete er prompt.
Das raubte mir vollständig den Atem. Was auch immer ich erwartet hatte, das war es nicht. Er konnte doch unmöglich meinen …
»Ihr wollt ärztliche Behandlung?«, fragte ich und gab mir keine Mühe, die Mischung aus Grauen und Erstaunen in meiner Stimme zu verbergen. »Von mir? So wie ich es verstehe, wurdet Ihr doch … äh, ich meine …« Mit einer gewaltigen Willensanstrengung stellte ich das Gestammel ein und sagte entschlossen: »Ihr habt doch gewiss jede Behandlung erhalten, die in Eurem Fall möglich ist? Euer Zustand scheint recht gut zu sein.« Zumindest äußerlich. Ich biss mir auf die Unterlippe und kämpfte die aufsteigende Hysterie nieder.
»Man hat mir mitgeteilt, dass ich mich glücklich schätzen kann, am Leben zu sein, Madam«, antwortete er kalt. »Obwohl man darüber diskutieren könnte.« Er entzündete die Laterne in einer Nische an der Wand, in der sich die trockene Vertiefung einer Piscina befand.
»Ich gehe davon aus, dass Eure Nachfrage eher durch medizinische Neugier als durch Sorge um mein Wohlergehen motiviert ist«, fuhr er fort. Die Laterne, die auf Hüfthöhe stand, beleuchtete ihn von den Rippen abwärts und ließ Kopf und Schultern im Dunklen. Er legte eine Hand an seinen Hosenbund und wandte sich zu mir hin.
»Würdet Ihr die Verletzung gern in Augenschein nehmen, um Euch ein Bild von der Wirksamkeit der Behandlung zu machen?« Sein Gesicht war zwar im Schatten verborgen, doch die Spitzen der Eissplitter in seiner Stimme waren in Gift getaucht.
»Später vielleicht«, sagte ich so kühl wie er. »Wenn nicht für Euch selbst, für wen braucht Ihr mich dann?«
Er zögerte, doch zum Schweigen war es jetzt zu spät.
»Für meinen Bruder.«
»Euren Bruder?« Es gelang mir nicht, mein Erschrecken zu verbergen. »Alexander?«
»Da mein älterer Bruder William, soweit ich weiß, gewissenhaft mit der Verwaltung des Familienanwesens in Sussex beschäftigt ist und keiner Hilfe bedarf«, sagte er trocken, »ja, für meinen Bruder Alex.«
Ich legte die gespreizten Hände auf den kalten Stein eines Sarkophags, um mich zu stützen.
»Erzählt es mir.«
Die Geschichte war nicht besonders kompliziert, und sie war traurig. Wäre der Erzähler nicht Jonathan Randall gewesen, hätte ich mich dabei ertappt, dass ich Mitleid empfand.
Infolge des Skandals um Mary Hawkins seiner Anstellung beim Herzog von Sandringham beraubt und zu kränklich, um sich andere Arbeit zu suchen, war Alexander Randall gezwungen gewesen, seine Brüder um Hilfe zu bitten.
»William hat ihm zwei Pfund übersandt und einen Brief voll ernster Ermahnungen.« Jack Randall lehnte sich an die Wand und schlug die Beine übereinander. »William ist leider ein ziemlich ernster Charakter. Doch er war nicht bereit, Alex heim nach Sussex zu holen. Williams Frau ist ein wenig … sagen wir, extrem? … in ihren religiösen Ansichten.« In seiner Stimme lag ein Hauch von Belustigung, und einen Moment lang war er mir unerwartet sympathisch. Wäre er unter anderen Umständen wie der Urenkel gewesen, dem er so sehr ähnelte?
Der plötzliche Gedanke an Frank brachte mich aus der Fassung, so dass ich seinen nächsten Satz nicht mitbekam.
»Entschuldigung. Was habt Ihr gesagt?« Ich umklammerte meine linke Hand mit der rechten, und meine Finger schlossen sich fest um meinen goldenen Ehering. Frank war fort. Ich musste aufhören, an ihn zu denken.
»Ich sagte, ich habe in der Nähe des Schlosses ein Zimmer für Alex gemietet, um selbst nach ihm sehen zu können, da meine Finanzen nicht weit genug reichten, um einen Leibdiener für ihn einzustellen.«
Doch die Besetzung Edinburghs hatte diese Besuche natürlich erschwert, und Alex Randall war sich während des letzten Monats mehr oder weniger selbst überlassen gewesen, abgesehen von den unregelmäßigen Besuchen einer Frau, die ab und zu ein wenig bei ihm sauber machte. Da er ohnehin kränklich war, hatte sich sein Zustand durch die Kälte, die schlechte Ernährung und die armseligen Lebensumstände so weit verschlechtert, dass Jack Randall ernsthaft erschrocken beschlossen hatte, mich um Hilfe zu bitten. Und mir als Preis für diese Hilfe den Verrat an seinem König anzubieten.