Brianna schüttelte den Kopf. »Ach, was. Sie hat nur am Wegesrand eine Pflanze gefunden, der sie nicht widerstehen konnte. Sie ist bestimmt gleich da.«
Über dem Kirchhof lag Ruhe. Selbst die Vögel waren still, jetzt, da der Mittag nahte, und kein Lüftchen bewegte die Zweige des dunklen Immergrüns am Rand des Plateaus. Ohne die frischen Narben jüngerer Gräber oder die Plastikblumen, die von unverheiltem Schmerz zeugten, atmete der Ort nichts als den Frieden der längst Verstorbenen. Aller Strapazen und Sorgen enthoben, blieb nur die Tatsache, dass sie gelebt hatten, und spendete der einsamen Höhe den Trost menschlicher Nähe.
Die drei Besucher kamen nur langsam voran; sie spazierten gelassen über den alten Friedhof, und während sich Roger und Brianna über die verwitterten Steine beugten, um die merkwürdigen Inschriften zu lesen, bückte sich Claire ein wenig abseits hin und wieder und schnitt eine Ranke ab oder grub eine kleine blühende Pflanze aus.
Roger neigte sich über einen Stein, grinste und winkte Brianna, die Inschrift zu lesen.
»›Kommt herbei, zieht den Hut und lest‹«, rezitierte sie. »›Denn Bailie William Watson hier verwest/Berühmt war seine Denkerstirn/Doch soff er sich auch nicht ums Hirn.‹« Brianna richtete sich von dem Stein auf und lachte so sehr, dass sie rot wurde. »Kein Datum – ich frage mich, wann William Watson wohl gelebt hat.«
»Wahrscheinlich im achtzehnten Jahrhundert«, sagte Roger. »Die Steine aus dem siebzehnten Jahrhundert sind zum Großteil so verwittert, dass man sie nicht mehr lesen kann, und hier ist seit zweihundert Jahren niemand mehr beerdigt worden; sie haben die Kirche im Jahr 1800 ausgesegnet.«
Im nächsten Moment stieß Brianna einen unterdrückten Ausruf aus. »Hier ist es!« Sie stand auf und winkte zu Claire hinüber, die am anderen Ende des Kirchhofs stand und neugierig ein Stück Grünzeug betrachtete, das sie in der Hand hielt. »Mama! Komm, sieh dir das an!«
Claire winkte zurück und bahnte sich vorsichtig den Weg zu ihnen und dem flachen, quadratischen Stein, vor dem sie standen.
»Was ist denn?«, fragte sie. »Habt ihr ein interessantes Grab gefunden?«
»Ich glaube, ja. Erkennen Sie den Namen wieder?« Roger trat einen Schritt zurück, so dass ihr Blick unverstellt war.
»Jesus H. Roosevelt Christ!« Etwas verblüfft sah Roger Claire an und stellte alarmiert fest, wie bleich sie war. Sie starrte auf den verwitterten Stein hinunter, und ihre Halsmuskeln bewegten sich, als sie krampfhaft schluckte. Die Pflanze, die sie ausgerupft hatte, lag achtlos zerdrückt in ihrer Hand.
»Dr. Randall – Claire – alles in Ordnung?«
Ihre Bernsteinaugen waren ausdruckslos, und im ersten Moment schien sie ihn nicht zu hören. Dann blinzelte sie und blickte auf. Sie war zwar immer noch blass, schien sich aber wieder im Griff zu haben.
»Alles gut«, sagte sie tonlos. Sie beugte sich vor und fuhr mit den Fingern über die Buchstaben auf dem Stein, als läse sie sie in Blindenschrift.
»Jonathan Wolverton Randall«, sagte sie leise. »1705–1746. Ich hab’s dir doch gesagt, nicht wahr? Du Mistkerl, ich habe es dir gesagt!« Ihre Stimme, die gerade noch so flach gewesen war, bebte plötzlich voller Leben und unterdrückter Wut.
»Mama! Geht es dir gut?« Brianna, deren Bestürzung nicht zu übersehen war, zog ihre Mutter am Arm.
Roger hatte das Gefühl, als hätte sich hinter Claires Augen eine Blende geschlossen; die Emotion, die dort geleuchtet hatte, verschwand auf der Stelle, als ihr bewusst wurde, dass die beiden jungen Leute sie entgeistert anstarrten. Sie lächelte, eine kurze, mechanische Grimasse, und nickte.
»Ja. Ja, natürlich. Es geht mir gut.« Ihre Hand öffnete sich, und der erschlaffte Pflanzenstengel fiel zu Boden.
»Ich dachte, du würdest überrascht sein.« Brianna betrachtete ihre Mutter besorgt. »Ist das nicht Papas Vorfahre? Der Soldat, der in Culloden umgekommen ist?«
Claire senkte den Blick auf den Grabstein zu ihren Füßen.
»Ja, das ist er«, sagte sie. »Und er ist doch tot, nicht wahr?«
Roger und Brianna wechselten einen Blick. Roger, der sich verantwortlich fühlte, berührte Claire an der Schulter.
»Es ist ziemlich warm geworden«, sagte er bemüht beiläufig. »Vielleicht sollten wir in die Kirche gehen; da ist es schattig. Das Taufbecken ist eine interessante Steinmetzarbeit; wirklich lohnenswert.«
Claire lächelte ihn an. Ein echtes Lächeln diesmal, ein wenig müde, aber eindeutig zurechnungsfähig.
»Geht nur«, sagte sie, und ihr Kopfnicken bezog auch Brianna mit ein. »Ich brauche ein bisschen frische Luft. Ich bleibe noch etwas hier draußen.«
»Ich bleibe bei dir.« Es widerstrebte Brianna sichtlich, ihre Mutter allein zu lassen, doch Claire hatte sowohl ihren Gleichmut als auch ihre Autorität wiedergefunden.
»Unsinn«, sagte sie knapp. »Mir fehlt wirklich nichts. Ich setze mich dort drüben in den Schatten der Bäume. Geht nur. Ich möchte lieber einen Moment allein sein«, fügte sie entschlossen hinzu, als sie sah, wie Roger den Mund öffnete, um zu protestieren.
Ohne weitere Umschweife wandte sie sich ab und ging auf die Reihe der dunklen Eiben zu, die den Kirchhof im Westen begrenzten. Brianna zögerte und sah ihr nach, doch Roger nahm sie beim Ellbogen und zog sie auf die Kirche zu.
»Lass sie nur«, murmelte er. »Deine Mutter ist schließlich Ärztin, oder? Sie wird schon wissen, ob alles in Ordnung ist.«
»Ja … vermutlich hast du recht.« Mit einem letzten sorgenvollen Blick in Claires Richtung ließ sich Brianna von ihm davonführen.
Die Kirche war nicht mehr als ein leerer Raum mit einem Holzfußboden. Nur das verlassene Taufbecken befand sich noch an seinem Platz, schlicht, weil es sich nicht entfernen ließ. Das flache Becken war eine Vertiefung in dem Steinvorsprung, der an einer Seite des Raums entlanglief. Über dem Becken blickte St. Kildas in den Stein gemeißeltes Gesicht mit leeren Augen und fromm zur Decke gewandtem Kopf in die Höhe.
»Wahrscheinlich war es anfangs ein heidnisches Götzenbild«, sagte Roger und fuhr mit dem Finger über eine Kontur des Gesichts. »Man kann sehen, wo sie den Schleier nachträglich hinzugefügt haben – von den Augen ganz zu schweigen.«
»Wie pochierte Eier«, pflichtete ihm Brianna bei und verdrehte ihrerseits die Augen. »Was ist das hier für ein Muster? Es sieht so aus wie die Muster auf den Piktensteinen in der Nähe von Clava.«
Sie spazierten in aller Ruhe an den Wänden der Kirche entlang, atmeten die staubige Luft, betrachteten die antiken Steinmetzarbeiten an den Mauern und lasen die kleinen Holzplaketten, die längst dahingeschiedene Gemeindemitglieder zum Gedenken an noch länger verstorbene Vorfahren dort angebracht hatten. Sie sprachen beide leise und lauschten mit einem Ohr auf eventuelle Geräusche auf dem Kirchhof, doch alles war still, und allmählich entspannten sie sich wieder.
Roger folgte Brianna durch den Innenraum und beobachtete die Haarsträhnen, die aus ihrem Zopf entwischt waren und sich feucht an ihrem Hals ringelten.
Alles, was sich jetzt noch an der Vorderseite der Kirche befand, war ein einfaches Holzpodest über der Lücke, wo man den Altarstein entfernt hatte. Dennoch lief Roger ein leichter Schauder über den Rücken, als er neben Brianna stand und den verschwundenen Altar spürte.
Seine Empfindungen waren so intensiv, dass sie durch den leeren Raum zu hallen schienen. Er hoffte, dass Brianna sie nicht hören konnte. Sie kannten einander schließlich erst eine Woche und hatten sich kaum über persönliche Dinge unterhalten. Sicher hätte sie verblüfft oder erschrocken reagiert, wenn sie gewusst hätte, was er fühlte. Oder schlimmer noch, sie hätte gelacht.
Doch ihr Gesicht war ruhig und ernst, als er jetzt einen verstohlenen Blick darauf warf. Auch sie sah ihn an, und der Ausdruck ihrer dunkelblauen Augen bewog ihn, sich unbewusst zu ihr hinzudrehen und die Hand nach ihr auszustrecken.
Der Kuss war kurz und sanft, kaum mehr als die Formalität, die eine Hochzeit beschließt, und doch war seine Wirkung so heftig, als hätten sie einander in diesem Moment ein Gelübde geschworen.