Eine Weile standen wir Seite an Seite da und sahen zu, wie der feine Eisregen auf den Sandstein und das dichte braune Gras spritzte, das den Kirchhof überwucherte.
»Sie sagen, Ihr seid eine Weiße Dame«, stellte Maisri plötzlich fest. Ich konnte spüren, wie sie mich gebannt beobachtete, jedoch ohne die Nervosität, die solchen Feststellungen sonst anzuhaften schien.
»Das sagen sie«, pflichtete ich ihr bei.
»Ah.« Sie sagte nichts mehr, sondern blickte nur auf ihre langen, eleganten Füße, die in Wollstrümpfen und Ledersandalen steckten. Meine eigenen Zehen, die deutlich besser geschützt waren, wurden allmählich taub, und ich dachte, dass die ihren zu Eis gefroren sein mussten, wenn sie schon länger hier war.
»Was macht Ihr denn hier oben?«, fragte ich. Bei heiterem Wetter war das Kloster ein wunderschöner, friedvoller Ort, doch im kalten Winterregen war es nicht besonders gemütlich.
»Ich komme zum Nachdenken her«, sagte sie. Sie lächelte schwach, doch irgendetwas beschäftigte sie sichtlich sehr. Was auch immer sie dachte, besonders angenehm war es nicht.
»Und worüber?«, fragte ich und hievte mich neben ihr zum Sitzen auf den Sarkophag hoch. Auf der Deckplatte lag die verwitterte Gestalt eines Ritters, der sein Claymoreschwert an seine Brust gedrückt hielt, so dass der Griff ein Kreuz über seinem Herzen formte.
»Ich will wissen, warum!«, entfuhr es ihr. Ihr schmales Gesicht glühte plötzlich vor Empörung.
»Warum was?«
»Warum! Warum kann ich sehen, was geschehen wird, wenn ich doch nicht das Geringste tun kann, um es zu ändern oder zu verhindern? Wozu ist eine solche Gabe gut? Eigentlich ist es gar keine Gabe – es ist ein verdammter Fluch, obwohl ich nichts getan habe, um einen solchen Fluch zu verdienen!«
Sie wandte sich um und warf einen missmutigen Blick auf Thomas Fraser, friedvoll unter seinem Helm, den Schwertgriff in den verschränkten Händen.
»Aye, vielleicht gilt der Fluch ja auch dir, du alter Narr! Dir und dem Rest deiner verdammten Familie. Habt Ihr das auch schon einmal gedacht?«, fragte sie, plötzlich wieder an mich gewandt. Ihre Augenbrauen krümmten sich hoch über braunen Augen, die vor wütender Intelligenz funkelten.
»Habt Ihr schon einmal gedacht, dass es gar nicht Euer eigenes Schicksal ist, das Euch zu dem macht, was Ihr seid? Dass Ihr vielleicht das Zweite Gesicht oder die Macht nur besitzt, weil es für jemand anderen notwendig ist, und dass es überhaupt nichts mit Euch zu tun hat – dass Ihr nur diejenige seid, die es hat und die darunter leiden muss? Ja?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich langsam. »Oder doch, jetzt, da Ihr es sagt – ich habe es mich schon gefragt. Warum ich? Das fragt man sich natürlich immerzu. Aber mir fällt nie eine zufriedenstellende Antwort ein. Ihr glaubt, Ihr habt vielleicht das Zweite Gesicht, weil es ein Fluch ist, der auf den Frasers liegt – ihren Todestag im Voraus zu wissen? Was für ein höllischer Gedanke.«
»Höllisch ist richtig«, pflichtete sie mir bitter bei. Sie lehnte sich an den Sarkophag aus rotem Sandstein zurück und starrte in den Regen hinaus, der von der Krone der halb eingestürzten Mauer sprühte.
»Was meint Ihr?«, fragte sie plötzlich. »Sage ich es ihm?«
Ich war verblüfft.
»Wem? Lord Lovat?«
»Aye, Seiner Lordschaft. Er fragt, was ich sehe, und schlägt mich, wenn ich ihm sage, es gibt nichts zu sehen. Er weiß Bescheid; er sieht es meinem Gesicht an, wenn ich eine Vision hatte. Aber das ist die einzige Macht, die ich habe, die Macht, nichts zu sagen.« Lange weiße Finger schlängelten sich aus ihrem Umhang hervor und spielten nervös mit dem nassen Stoff.
»Denn es ist doch immer möglich, nicht wahr?«, sagte sie. Sie hatte den Kopf gesenkt, so dass die Kapuze ihres Umhangs ihr Gesicht vor meinem Blick verhüllte. »Möglich, dass meine Worte etwas ändern. Es ist sogar hin und wieder schon vorgekommen. Ich habe es Lachlan Gibbons erzählt, als ich seinen Schwiegersohn in Seetang gewickelt gesehen habe und in seinem Hemd die Aale umhergekrochen sind. Lachlan hat auf mich gehört; er ist sofort zum Boot seines Schwiegersohns gegangen und hat ein Loch hineingeschlagen.« Sie lachte bei der Erinnerung daran. »Himmel, war das ein Tumult! Doch als in der Woche darauf der große Sturm kam, sind drei Männer ertrunken, und Lachlans Schwiegersohn war sicher daheim und hat immer noch sein Boot geflickt. Und als ich ihn das nächste Mal gesehen habe, trug er ein trockenes Hemd, und der Seetang war aus seinem Haar verschwunden.«
»Dann ist es also möglich«, sagte ich leise. »Manchmal.«
»Manchmal«, sagte sie nickend, ohne den Blick vom Boden zu heben. Lady Sarah Fraser lag zu ihren Füßen, und ihr Stein war mit einem Schädel über gekreuzten Knochen verziert. Hodie mihi cras tibi, sagte die Inschrift. Sic transit gloria mundi. Heute ich, morgen du. So vergeht der Glanz der Welt.
»Manchmal auch nicht. Wenn ich einen Mann in sein Leichentuch gewickelt sehe, wird er krank – und man kann nichts dagegen tun.«
»Vielleicht«, sagte ich. Ich richtete den Blick auf meine Hände, die neben mir auf den Stein gebreitet waren. Ohne Medizin, ohne Instrumente, ohne Wissen – ja, dann war eine Krankheit Schicksal, und man konnte nichts dagegen tun. Doch wenn ein Heiler in der Nähe war und Mittel zur Heilung besaß … war es möglich, dass Maisri den Schatten einer kommenden Krankheit als echtes – wenn auch gewöhnlich unsichtbares – Symptom sah, ähnlich wie Fieber oder einen Ausschlag? Und dass dann nur das Fehlen medizinischer Möglichkeiten die Entdeckung solcher Symptome zu einem Todesurteil machte? Ich würde es nie erfahren.
»Wir werden es nie erfahren«, sagte ich an sie gewandt. »Wir können es nicht sagen. Wir wissen Dinge, die andere Menschen nicht wissen, und wir können nicht sagen, warum oder woher. Aber es gehört zu uns – und Ihr habt recht, es ist ein Fluch. Doch wenn man Wissen besitzt, das Schaden verhindern könnte … glaubt Ihr, es könnte auch Schaden verursachen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann es nicht sagen. Wenn Ihr wüsstet, dass Ihr bald sterben werdet, gibt es Dinge, die Ihr dann tun würdet? Und wären es nur gute Dinge, die Ihr tun würdet, oder würdet Ihr Eure letzte Chance nutzen, Euren Feinden zu schaden – etwas, was Ihr sonst nicht getan hättet?«
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das weiß.« Eine Weile sahen wir schweigend zu, wie sich der Eisregen in Schnee verwandelte und die wehenden Flocken in heftigen Stößen durch das zerstörte Rahmenwerk der Klostermauer wirbelten.
»Manchmal weiß ich, dass da etwas ist«, sagte Maisri plötzlich, »doch ich kann es aus meinem Kopf verbannen, nicht hinsehen. So war es auch bei Seiner Lordschaft; ich wusste, dass da etwas war, aber es war mir gelungen, es nicht zu sehen. Aber dann hat er mich gebeten, hinzusehen und den Zauberspruch zu sagen, damit die Vision klar wurde. Und ich habe es getan.« Die Kapuze ihres Umhangs rutschte nach hinten, als sie den Kopf zurücklegte und an der Klostermauer emporblickte, die sich über uns in den Himmel erhob, ocker, weiß und rot, mit bröckelnden Fugen. Das weiß gesträhnte schwarze Haar fiel ihr über den Rücken, frei im Wind.
»Er stand da, vor dem Feuer, doch es war Tageslicht, und alles war klar zu sehen. Ein Mann stand hinter ihm, reglos wie ein Baum, das Gesicht schwarz verhüllt. Und über das Gesicht Seiner Lordschaft fiel der Schatten einer Axt.«
Ihr Ton war ganz sachlich, aber mir lief ein Schauer über den Rücken. Schließlich seufzte sie und wandte sich mir zu.
»Nun, ich werde es ihm also sagen, dann kann er tun, was er will. Was ich nicht kann, ist, ihn zu verdammen oder zu retten. Die Entscheidung liegt bei ihm – und möge ihm der Herr Jesus helfen.«
Sie wandte sich zum Gehen, und ich rutschte von dem Sarkophag und landete auf Lady Sarahs Grabplatte.
»Maisri«, sagte ich. Sie wandte sich zu mir zurück, und ihre Augen waren so schwarz wie die Schatten zwischen den Grabmalen.
»Aye?«
»Was seht Ihr, Maisri?«, fragte ich und stand ihr wartend gegenüber, die Hände an meinen Seiten.