Roger schoss eine Szene durch den Kopf; eine Anekdote, die er bei Hogarth gelesen hatte. Er rezitierte sie aus dem Gedächtnis, so wortgetreu er es konnte. »Als man ihn durch den spottenden, schreienden englischen Pöbel trug, machte der alte Anführer des Fraser-Clans einen gelassenen Eindruck. Er schenkte den Geschossen, die an seinem Kopf vorüberflogen, keine Beachtung und schien geradezu gute Laune zu haben. Als Antwort auf den Ausruf einer älteren Engländerin – ›Du wirst gleich einen Kopf kürzer gemacht, du alter schottischer Mistkerl!‹ – beugte er sich aus dem Fenster seiner Sänfte und rief jovial zurück: ›So ist es wohl, du hässliche alte englische Kuh!‹«
Sie lächelte zwar, doch der Laut, den sie ausstieß, war eine Mischung zwischen Lachen und Schluchzen.
»Das kann ich mir vorstellen, der alte Schurke.«
»Als sie ihn zum Henkersblock geführt haben«, fuhr Roger vorsichtig fort, »bat er darum, die Klinge inspizieren zu dürfen, und wies den Scharfrichter an, seine Sache gut zu machen. Er hat zu dem Mann gesagt: ›Macht das ja richtig, sonst werde ich sehr wütend auf Euch sein.‹«
Die Tränen liefen ihr aus den geschlossenen Lidern und glitzerten wie Juwelen im Feuerschein. Er bewegte sich auf sie zu, doch sie spürte es und schüttelte den Kopf, ohne die Augen zu öffnen.
»Schon gut. Erzähl weiter.«
»Viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Einige von ihnen haben auch überlebt. Lochiel ist nach Frankreich geflohen.« Er verzichtete bewusst darauf, Lochiels Bruder zu erwähnen, Archibald Cameron. Sie hatten den Arzt in Tyburn gehängt und gevierteilt und sein Herz in die Flammen geworfen. Sie schien die Auslassung nicht zu bemerken.
Schnell beendete er die Liste und beobachtete sie unterdessen. Ihre Tränen waren versiegt, doch sie ließ den Kopf vornüberhängen, so dass die dichten Locken ihre Miene verbargen.
Als er fertig war, hielt er einen Moment inne, dann erhob er sich und nahm sie entschlossen beim Arm.
»Komm mit«, sagte er. »Du brauchst ein bisschen Luft. Es hat aufgehört zu regnen; gehen wir nach draußen.«
Die Luft im Freien war frisch und kühl, beinahe berauschend nach der drückenden Atmosphäre im Studierzimmer des Reverends. Der heftige Regen hatte gegen Sonnenuntergang aufgehört, und jetzt, am frühen Abend, tröpfelte nur noch ein Echo des Wolkenbruchs von den Bäumen und Büschen.
Ich fühlte mich beinahe überwältigend erleichtert, aus dem Haus zu kommen. So lange hatte ich Angst vor diesem Moment gehabt, und jetzt war er vorüber. Selbst wenn Brianna niemals … doch nein, das würde sie. Selbst wenn es lange dauern würde, würde sie die Wahrheit mit Sicherheit erkennen. Sie konnte gar nicht anders, denn diese blickte ihr jeden Morgen aus dem Spiegel entgegen; sie floss ihr mitten durch die Adern. Für den Moment hatte ich ihr alles erzählt, und ich empfand die Erleichterung einer Seele nach der Beichte, die sich beim Verlassen des Beichtstuhls erst einmal keine Gedanken über die bevorstehende Buße machte.
Ganz ähnlich wie eine Geburt, dachte ich. Ein kurzer Zeitraum voller Strapazen und heftiger Schmerzen, gepaart mit der unverrückbaren Aussicht auf schlaflose Nächte und nervtötende Tage. Doch in diesem seligen, friedlichen Moment gab es nichts als stille Euphorie, die die Seele erfüllte und keinen Raum für böse Vorahnungen ließ. Selbst der frisch empfundene Schmerz um die Männer, die ich einst gekannt hatte, war hier gedämpft, besänftigt durch die Sterne, die durch die Risse in den Wolkenfetzen schienen.
Die Nacht war frühlingsfeucht, und die Reifen der Autos, die auf der nahen Straße vorüberfuhren, zischten über den nassen Asphalt. Roger führte mich wortlos den kleinen Hang hinter dem Haus hinunter, am anderen Ende einer kleinen, moosbewachsenen Mulde hinauf und wieder hinunter zu einem Pfad, über den man zum Fluss kam. Hier gab es eine schwarze stählerne Eisenbahnbrücke; eine Eisenleiter führte vom Rand des Pfades zu einem der Pfeiler hinauf. Irgendjemand hatte sich mit einer Dose weißer Farbe bewaffnet und in kräftigen, chaotischen Lettern FREIHEIT FÜR SCHOTTLAND auf den Träger gesprüht.
Trotz der Traurigkeit, die die Erinnerungen in mir auslösten, war ich in Frieden, zumindest fast. Das Schwierigste hatte ich hinter mir. Brianna wusste jetzt, wer sie war. Ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass sie es mit der Zeit glauben würde – und zwar nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch um meinetwillen. Mehr, als ich es mir selber eingestanden hätte, wünschte ich mir jemanden, mit dem ich mich an Jamie erinnern konnte, jemanden, mit dem ich über ihn reden konnte.
Ich empfand überwältigende Müdigkeit, die Kopf und Körper überkam. Doch ich richtete mich ein letztes Mal auf und zwang meinen Körper über seine Grenzen hinaus, wie ich es schon so oft getan hatte. Bald, so versprach ich meinen schmerzenden Gliedern, meinem wunden Verstand, meinem frisch zerrissenen Herzen. Bald konnte ich ruhen. Dann konnte ich mich allein in den kleinen, gemütlichen Salon der Pension setzen, allein am Feuer mit meinen Geistern. Ich konnte in Frieden um sie trauern, konnte der Erschöpfung gemeinsam mit den Tränen freien Lauf lassen und schließlich im Schlaf vorübergehendes Vergessen, wo ich ihnen noch einmal lebendig begegnen konnte.
Doch noch war es nicht so weit. Eines hatte ich vor dem Schlafen noch zu tun.
Eine Weile spazierten sie schweigend dahin und hörten nur die fernen Verkehrsgeräusche und den Fluss, der an die Ufer schlug. Es widerstrebte Roger, ein Gespräch anzufangen, um sie nicht an Dinge zu erinnern, die sie lieber vergessen würde. Doch die Schleusen waren nun einmal geöffnet, und es war unmöglich, die Flut zurückzuhalten.
Zögernd und stockend begann sie, kleine Fragen an ihn zu richten. Er beantwortete sie, so gut er konnte, und stellte seinerseits zögernd einige Fragen. Die Freiheit, nach so vielen Jahren der aufgestauten Geheimhaltung plötzlich zu reden, schien wie eine Droge auf sie zu wirken, und Roger, der ihr fasziniert zuhörte, lockte sie weiter aus der Reserve. Bis sie die Eisenbahnbrücke erreicht hatten, hatte sie wieder zu der Charakterstärke gefunden, die ihm bei ihrer ersten Begegnung an ihr aufgefallen war.
»Er war ein Narr, ein Trunkenbold und ein alberner Schwachkopf«, verkündete sie leidenschaftlich. »Sie waren alle Narren – Lochiel, Glengarry und der ganze Rest. Sie haben zu viel zusammen getrunken und sich an Charlies törichten Träumen berauscht. Reden kann jeder, und Dougal hatte recht – es ist leicht, tapfer zu sein, wenn man bei einem Glas Bier im warmen Zimmer sitzt. Sie waren vom Alkohol benebelt und dann zu stolz auf ihre verdammte Ehre, um nachzugeben. Sie haben ihre Männer aufgepeitscht und bedroht, sie bestochen und mit Versprechungen gelockt – und sie alle ins Verderben geführt … im Namen von Ruhm und Ehre.«
Sie prustete durch die Nase und verstummte einen Moment. Dann lachte sie zu seiner Überraschung laut.
»Aber weißt du, was wirklich komisch ist? Dieser arme, alberne Tropf und seine habgierigen, dummen Helfershelfer – und die törichten, aufrechten Männer, die sich nicht dazu durchringen konnten, einen Rückzieher zu machen –, sie alle hatten eine gemeinsame Stärke: Sie haben an ihre Sache geglaubt. Und das Merkwürdige ist, dass es das ist, was von ihnen geblieben ist – von der Dummheit, der Inkompetenz, der Feigheit und der trunkenen Eitelkeit spricht niemand mehr. Alles, was heute von Charles Stuart und seinen Männern übrig ist, ist der Ruhm, nach dem sie gestrebt und den sie nie gefunden haben. Vielleicht hatte Raymond ja recht«, fügte sie in sanfterem Ton hinzu, »und es ist nur die Essenz, die zählt. Wenn die Zeit alles andere mit sich nimmt, ist die Härte der Knochen alles, was bleibt.«
»Du musst ja einige Bitterkeit gegenüber den Historikern empfinden«, wagte sich Roger vor. »All den Autoren, die es falsch dargestellt haben – ihn zum Helden gestempelt haben. Ich meine, man kann doch in den Highlands nirgendwo hingehen, ohne den Bonnie Prince auf Toffeedosen und Souvenirtassen für die Touristen zu sehen.«