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Claire schüttelte den Kopf und blickte in die Ferne. Der Abendnebel wurde dichter, und wieder begann es im Gebüsch, von den Blattspitzen zu tropfen.

»Nein, nicht die Historiker. Ihr größtes Verbrechen besteht ja darin, dass sie vorgeben zu wissen, was geschehen ist, wie sich die Dinge abgespielt haben, obwohl sie nur das haben, was die Vergangenheit zu hinterlassen beschlossen hat. Sie denken mehr oder weniger das, was sie denken sollen, und es kommt nur selten vor, dass einer von ihnen hinter dem Nebelschleier aus Antiquitäten und Dokumenten sieht, was sich wirklich zugetragen hat.«

In der Ferne ertönte ein leises Grollen. Der Abendzug aus London. An klaren Abenden konnte Roger ihn vom Pfarrhaus aus hören.

»Nein, die eigentliche Schuld liegt bei den Künstlern«, fuhr Claire fort. »Den Schriftstellern, den Musikern, den Geschichtenerzählern. Sie sind es, die die Vergangenheit nehmen und sie nach ihrem Geschmack neu erschaffen. Die einen Narren nehmen und einen Helden zurückgeben können, einen Trunkenbold nehmen und einen König daraus machen können.«

»Sind sie wirklich alle Lügner?«, fragte Roger. Claire zuckte mit den Achseln. Trotz der Kühle hatte sie ihr Jackett ausgezogen; die Feuchtigkeit schmiegte ihr die Baumwollbluse so an den Körper, dass sich ihr feines Schlüsselbein und ihre Schulterblätter darunter abzeichneten.

»Lügner?«, fragte sie. »Oder Magier? Sehen sie die Gebeine im Staub der Erde, sehen sie die Essenz eines Wesens, das einmal existiert hat, und kleiden es in neue Haut, so dass das schwerfällige Arbeitstier als Fabelwesen zu neuem Leben erwacht?«

»Und ist es ein Fehler, wenn sie das tun?«, fragte Roger. Die Eisenbahnbrücke erbebte, als der Flying Scotsman die Weiche davor erreichte. Die fließenden weißen Buchstaben vibrierten – FREIHEIT FÜR SCHOTTLAND.

Claire blickte zu den Lettern hinauf, das Gesicht flüchtig vom Mondschein erhellt.

»Du verstehst es immer noch nicht, oder?« Sie war irritiert, doch ihre heisere Stimme erhob sich nicht über ihre normale Lautstärke.

»Man weiß nicht, warum«, sagte sie. »Du weißt es nicht, und ich weiß es nicht, und wir werden es auch nie wissen. Begreifst du das nicht? Man weiß es nicht, weil man nicht sagen kann, wie es ausgegangen ist – es gibt kein Ende. Man kann nicht sagen, ›dieses konkrete Ereignis‹ war ›prädestiniert‹, und deshalb sind dann all diese anderen Dinge geschehen. Was Charles den Menschen in Schottland angetan hat – war das das ›Ereignis‹, das geschehen musste? Oder wäre es ohnehin geschehen, und Charles’ eigentliche Rolle bestand darin, zu dem zu werden, was er heute ist – eine Galionsfigur, eine Ikone? Wenn er nicht gewesen wäre, hätte Schottland dann trotzdem die zweihundertjährige Union mit England überdauert, ohne seine Identität zu verlieren?« Sie wies mit einer Geste auf die Buchstaben über ihnen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Roger, der schreien musste, als der Lokscheinwerfer auf die Bäume fiel und der Zug oben über die Brücke donnerte.

Eine Minute lang schepperte und dröhnte es, und der Lärm ging ihnen so durch Mark und Bein, dass sie erstarrten. Dann war der Zug vorüber, und das Rattern erstarb zu einem einsamen Heulen, nachdem das Rücklicht verschwunden war.

»Und das ist das Vertrackte daran, nicht wahr?«, sagte sie und wandte sich ab. »Man weiß es nie, aber man muss trotzdem handeln, nicht wahr?«

Sie spreizte plötzlich die Hände und bewegte ihre kraftvollen Finger so, dass ihre Ringe im Licht aufblitzten.

»Das lernt man, wenn man Arzt wird. Nicht in der Ausbildung – das ist ohnehin nicht der Ort zum Lernen –, sondern wenn man die Hand auf einen Menschen legt und vorgibt, ihn zu heilen. Es gibt so viele, die man nicht zu fassen bekommt. So viele, die man nicht berühren kann, so viele, deren Essenz man nicht finden kann, so viele, die einem durch die Finger gleiten. Doch an sie darf man nicht denken. Das Einzige, was man tun kann – das Einzige –, ist, es bei dem einen zu versuchen, den man vor sich hat. Man muss sich so verhalten, als wäre dieser eine Patient der einzige Mensch auf der ganzen Welt – denn sonst verliert man diesen Menschen auch noch. Einen nach dem anderen, das ist alles, was man tun kann. Und man lernt, nicht wegen der Menschen zu verzweifeln, denen man nicht helfen kann, sondern nur zu tun, was man kann.«

Sie wandte sich wieder zu ihm um. Ihr Gesicht war vor Erschöpfung eingefallen, doch ihre Augen leuchteten im Regenlicht, und Wasser fing sich glitzernd in ihrem verworrenen Haar. Ihre Hand ruhte auf Rogers Arm, gebieterisch wie der Wind, der das Segel eines Bootes füllt und es vorantreibt.

»Lass uns zurück zum Pfarrhaus gehen, Roger«, sagte sie. »Es gibt etwas, das ich dir unbedingt sagen muss.«

Auf dem Rückweg zum Pfarrhaus blieb Claire schweigsam und wich Rogers zögerlichen Erkundigungen aus. Sie lehnte den Arm ab, den er ihr anbot, und ging für sich, den Kopf nachdenklich gesenkt. Nicht, als überlegte sie noch, dachte Roger; ihr Entschluss war schon gefallen. Sie überlegte, was sie sagen sollte.

Roger selbst war voller Fragen. In der Stille kam er nach dem Aufruhr der Enthüllungen des Tages zur Ruhe – genug, um sich zu fragen, warum genau Claire sich entschlossen hatte, ihn dabei mit einzubeziehen. Sie hätte es Brianna problemlos allein erzählen können, wenn sie das gewollt hätte. Lag es nur daran, dass sie Angst davor hatte, wie Briannas Reaktion auf die Geschichte aussehen würde, und dieser nicht allein gegenübertreten wollte? Oder hatte sie darauf gebaut, dass er ihr glauben würde – was er ja tat –, um ihn dann als Verbündeten für die Sache der Wahrheit zu verpflichten – ihrer Wahrheit und Briannas?

Seine Neugier hatte den Siedepunkt fast erreicht, als sie am Pfarrhaus ankamen. Doch zuerst gab es noch etwas anderes zu tun; zusammen leerten sie eins der größten Bücherregale und schoben es vor das zerborstene Fenster, um die kalte Nachtluft auszusperren.

Von der Anstrengung errötet, ließ sich Claire auf dem Sofa nieder, während er zu dem kleinen Getränketisch in der Ecke ging und zwei Gläser Whisky einschenkte. Als Mrs. Graham noch lebte, hatte sie Getränke immer auf einem Tablett gebracht, anständig mit Servietten, Spitzendeckchen und Gebäck. Fiona hätte das liebend gern auch getan, wenn man es ihr gestattet hätte, doch Roger zog es vor, sich seinen Whisky einfach allein einzuschenken.

Claire bedankte sich und nippte an ihrem Glas, dann stellte sie es hin und blickte zu ihm auf, müde, aber gefasst.

»Du fragst dich sicher schon, warum ich wollte, dass du die ganze Geschichte hörst«, sagte sie mit dieser enervierenden Fähigkeit, seine Gedanken zu lesen.

»Es hatte zwei Gründe. Den zweiten sage ich dir gleich, doch was den ersten betrifft, so dachte ich, du hättest ein Recht, sie zu hören.«

»Ich? Was denn für ein Recht?«

Der Blick ihrer goldenen Augen war unverblümt und machte ihn nervös wie das arglose Starren eines Leoparden. »Das gleiche Recht wie Brianna. Das Recht zu wissen, wer du bist.« Sie durchquerte das Zimmer und trat an die gegenüberliegende Wand. Es war die deckenhohe Korkwand, die mit mehreren Schichten von Fotografien, Diagrammen, Notizen, verirrten Visitenkarten, alten Wochenplänen der Pfarre, Ersatzschlüsseln und anderen Kleinigkeiten gespickt war.

»Ich erinnere mich noch an diese Wand.« Claire lächelte und berührte ein Bild einer Preisverleihung an der örtlichen Grundschule. »Hat dein Vater jemals etwas davon abgenommen?«

Roger schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Er hat immer gesagt, in einer Schublade würde er nie etwas wiederfinden; wenn es etwas Wichtiges war, wollte er es in Sichtweite haben.«

»Dann ist er wahrscheinlich noch da. Er fand ihn wichtig.«

Sie hob die Hand und begann, vorsichtig in den sich überlappenden Schichten zu stöbern, indem sie die vergilbten Papiere vorsichtig voneinander löste.

»Das hier, glaube ich«, sagte sie nach einigem Hin- und Herblättern. Sie griff tief in das Durcheinander aus Predigtentwürfen und Quittungen aus der Waschanlage, zog ein einzelnes Blatt Papier hervor und legte es auf den Schreibtisch.