Nach dem Essen holte Brianna ihre Jacken, während er die Rechnung bezahlte.
»Wozu brauchst du die denn?«, fragte sie, als ihr Blick auf die Whiskyflasche in seiner Hand fiel. »Hast du nachher noch etwas vor?«
»Dir entgeht aber auch wirklich nichts, oder?«, sagte er und lachte.
»Für mich kann er ja nicht sein«, sagte sie mit einem hämischen Grinsen. »Schon, weil er so furchtbar schmeckt.«
»Die Vorliebe dafür ist angeboren«, teilte Roger ihr mit, und sein Akzent wurde breiter. »Aber nur bei den Schotten. Ich kaufe dir deine eigene Flasche zum Üben. Aber die hier ist ein Geschenk – ich habe versprochen, es abzuliefern. Willst du mitkommen, oder soll ich es später machen?«, fragte er. Er wusste nicht, ob er sich wünschte, dass sie mitkam, oder nicht, doch er war glücklich, als sie nickte und in ihre Jacke fuhr.
»Klar, warum nicht?«
»Gut.« Er streckte die Hand aus und klappte vorsichtig ihren Kragen um, so dass er ihr flach auf der Schulter lag. »Es ist nicht weit – gehen wir zu Fuß, ja?«
Abends sah die Gegend schon einladender aus. Die Dunkelheit verbarg ein wenig von ihrer Schäbigkeit, und das Licht, das aus den Fenstern in die kleinen Vorgärten fiel, verlieh der Straße etwas Anheimelndes, das ihr tagsüber fehlte.
»Es dauert auch nicht lange«, sagte Roger zu Brianna, als er auf die Klingel drückte. Er wusste gar nicht, ob er hoffen sollte, dass er recht hatte, oder nicht. Seine erste Angst verging, als sich die Tür öffnete; es war jemand zu Hause, und er war noch bei Bewusstsein.
Edgars hatte den Nachmittag eindeutig in der Gesellschaft einer der Flaschen verbracht, die hinter ihm auf der Kante der altmodischen Anrichte aufgereiht standen. Glücklicherweise schien er seine abendlichen Besucher nicht mit den Eindringlingen des Nachmittags in Verbindung zu bringen. Er blinzelte, als sich Roger mit den Worten vorstellte, die er sich auf dem Weg zum Haus zurechtgelegt hatte.
»Gillys Vetter? Ich wusste gar nicht, dass sie einen Vetter hat.«
»Nun, so ist es aber«, sagte Roger, um die Behauptung dann auf die Spitze zu treiben. »Nämlich mich.« Mit Gillian würde er sich befassen, wenn er sie sah. Falls er sie sah.
Edgars blinzelte ein paar Mal, dann rieb er sich die geröteten Augen, als wollte er sich seine Gäste genauer betrachten. Unter Schwierigkeiten richtete er den Blick auf Brianna, die sich schüchtern zurückhielt.
»Wer ist das?«, wollte er wissen.
»Äh … meine Freundin«, improvisierte Roger. Brianna sah ihn zwar mit zusammengekniffenen Augen an, sagte aber nichts. Sie roch eindeutig allmählich Lunte, ging aber ohne Protest vor ihm her, als Greg Edgars die Tür weiter öffnete, um sie beide einzulassen.
Die Wohnung war klein, stickig und vollgestopft mit Möbeln aus dem Gebrauchtladen. Es roch nach kalten Zigaretten und einem schlecht geleerten Mülleimer, und sämtliche horizontalen Oberflächen waren mit Fish-und-Chips-Verpackungen übersät. Brianna warf Roger einen Seitenblick zu, der sagte: Nette Verwandte hast du da, und er zuckte sacht mit den Achseln. Nicht meine Schuld. Die Dame des Hauses war eindeutig nicht zu Hause, und ihr letzter Besuch schien schon eine Weile zurückzuliegen.
Zumindest war sie nicht persönlich da. Als sich Roger umdrehte, um auf dem Stuhl Platz zu nehmen, den Edgars ihm anbot, sah er sich plötzlich einem großen Studioporträt gegenüber, das in einem Messingrahmen auf dem Kaminsims stand. Er biss sich auf die Zunge, um nicht erschrocken aufzuschreien.
Die Frau auf dem Foto schien ihm direkt ins Gesicht zu sehen, und der Hauch eines Lächelns kräuselte ihr den Mundwinkel. Platinblondes Haar fiel ihr in dichten, glänzenden Schwingen über die Schultern und rahmte ein perfektes, herzförmiges Gesicht ein. Unter dichten, dunklen Wimpern leuchteten ihre Augen tiefgrün wie Moos im Winter.
»Gut getroffen, was?« Greg Edgars betrachtete das Foto mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Sehnsucht.
»Äh, ja. Wie sie leibt und lebt.« Roger verging ein wenig der Atem, und er drehte sich, um ein zerknülltes Pommes-Papier von seinem Stuhl zu nehmen. Briannas Blick hing fasziniert an dem Porträt. Ihre Augen wanderten von dem Foto zu Roger und zurück und zogen unübersehbar Vergleiche. Vetter und Cousine, ja?
»Dann ist Gillian also nicht hier?« Roger hob die Hand, um abzuwinken, als ihm Edgars fragend die Flasche entgegenhielt, doch dann änderte er seine Meinung und nickte. Vielleicht würde er ja Edgars’ Vertrauen erwecken, wenn er etwas mit ihm trank. Wenn Gillian nicht hier war, musste er herausfinden, wo sie war.
Weil er damit beschäftigt war, das Zollsiegel mit den Zähnen zu entfernen, schüttelte Edgars den Kopf, dann nahm er sich vorsichtig das Deckelchen aus Wachs und Papier von der Unterlippe.
»Wohl kaum, Kumpel. Wenn sie hier ist, sieht es hier nicht ganz so schäbig aus.« Eine ausschweifende Geste erfasste die überquellenden Aschenbecher und die umgestürzten Pappbecher. »Fast vielleicht, aber nicht ganz so schlimm.« Er holte drei Weingläser aus dem Geschirrschrank und warf einen skeptischen Blick hinein, als überprüfte er, ob sie staubig waren.
Er schenkte den Whisky mit der übertriebenen Sorgfalt der Betrunkenen ein und trug die Gläser einzeln durch das Zimmer zu seinen Gästen. Brianna nahm das ihre mit derselben Sorgfalt entgegen, wollte aber keinen Stuhl und lehnte sich stattdessen elegant an die Ecke des Porzellanschranks.
Edgars ließ sich schließlich auf das zerschlissene Sofa plumpsen, ohne den Müll zu beachten, und hob sein Glas.
»Prost, Kumpel«, sagte er knapp und trank einen tiefen, schlürfenden Schluck. »Wie war noch dein Name?«, wollte er wissen und tauchte abrupt aus seiner Alkoholseligkeit auf. »Oh, Roger, stimmt ja. Gilly hat nie von dir gesprochen … aber das hat sie ja sowieso nie«, fügte er finster hinzu. »Weiß nichts von ihrer Familie, und sie hat nichts erzählt. Glaube, sie hat sich geschämt … aber so schlimm siehst du doch gar nicht aus«, sagte er großzügig. »Und deine Kleine erst, die kann sich sehen lassen!« Er brüllte vor Lachen und verspritzte Whiskytröpfchen.
»Ja«, sagte Roger. »Danke.« Er nippte an seinem Glas. Brianna wandte Edgars pikiert den Rücken zu und schien den Inhalt des Porzellanschranks durch die Facettenscheiben der Glastüren zu begutachten.
Es schien sinnlos, um den heißen Brei herumzureden, dachte Roger. Edgars hatte ohnehin keinerlei Sinn für Subtilitäten, und angesichts der Geschwindigkeit, mit der seine Zunge schwerer wurde, schien die Gefahr, dass er ohnmächtig wurde, mit jedem Moment zu wachsen.
»Wissen Sie, wo Gillian ist?«, fragte er unverblümt. Es fühlte sich jedes Mal seltsam an, wenn er ihren Namen aussprach. Diesmal musste er unwillkürlich zum Kaminsims aufblicken, wo das Foto heiter über das Gelage hinwegblickte.
Edgars schüttelte den Kopf und ließ ihn langsam über seinem Glas hin- und herschwingen wie ein Ochse über dem Futtertrog. Er war nicht besonders groß und untersetzt, vielleicht in Rogers Alter, doch der dichte, unrasierte Bartwuchs und das unfrisierte schwarze Haar ließen ihn älter wirken.
»Nein«, sagte er. »Dachte, du wüsstest es vielleicht. Wahrscheinlich entweder bei den Nationalen oder den Rosen, aber ich hab den Überblick verloren.«
»Nationale?« Rogers Herzschlag beschleunigte sich. »Sie meinen die schottischen Nationalisten?«
Edgars fielen allmählich die Augen zu, doch er öffnete sie noch einmal.
»Oh, aye. Die verdammten Nationalen. Da hab ich Gilly kennengelernt, aye?«
»Wann war das, Mr. Edgars?«
Beim Klang der leisen Stimme von oben blickte Roger überrascht auf. Doch es war nicht das Foto, das gesprochen hatte, sondern Brianna, die den Blick gebannt auf Greg Edgars gerichtet hielt. Roger konnte nicht sagen, ob sie sich nur an der Unterhaltung beteiligen wollte oder ob sie einen Verdacht hatte. Ihrem Gesicht war nichts als höfliches Interesse anzusehen.
»Weiß nicht … ist vielleicht zwei, drei Jahre her. Anfangs war es nur Spaß, hm? Lasst uns die verdammten Engländer aus dem Land werfen und selbst in die EG eintreten … Bier im Pub und auf dem Rücksitz geknutscht, wenn wir von einer Demo kamen. Mmm.« Wieder schüttelte Edgars den Kopf, während er mit verträumter Miene in seinen Erinnerungen schwelgte. Dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und er blickte stirnrunzelnd in sein Glas. »Da war sie aber noch nicht durchgeknallt.«