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Es war also nicht der Vorgang, Gillian Edgars’ Notizbuch in die Finger zu bekommen, der mein Herz rasen und meinen Atem in meinen Ohren dröhnen ließ. Es war das Buch selbst.

Wie Maître Raymond mir in Paris gesagt hatte, liegen die Macht und die Gefahr der Magie bei den Menschen, die daran glauben. Dem kurzen Blick nach, den ich vorhin auf den Inhalt geworfen hatte, war die tatsächliche Information in diesem Notizbuch ein außergewöhnlicher Mischmasch aus Fakt, Spekulation und unverblümter Fiktion, der nur für die Verfasserin selbst von Bedeutung sein konnte. Doch ich empfand einen beinahe körperlichen Ekel davor, das Buch zu berühren. Da ich wusste, wer es geschrieben hatte, wusste ich auch, was es wahrscheinlich war: ein Grimoire, eines Zauberers Buch der Geheimnisse.

Dennoch, wenn es irgendeinen Hinweis auf Geillis Duncans Aufenthaltsort und ihre Absichten gab, würde er hier zu finden sein. Mit einem unterdrückten Schauder ergriff ich den glatten Einband und steckte das Buch in meinen Mantel, wo ich es auf dem Weg die Treppe hinunter mit dem Ellbogen festklemmte.

Auch als ich sicher wieder auf der Straße war, hielt ich das Buch weiter unter meinem Ellbogen fest, und der Einband wurde im Gehen schweißfeucht. Ich fühlte mich, als transportierte ich eine Bombe, etwas, das mit skrupulöser Vorsicht gehandhabt werden musste, um eine Explosion zu verhindern.

Nachdem ich ein Stück gegangen war, bog ich schließlich in den Vorgarten eines kleinen italienischen Restaurants mit einer Terrasse am Fluss ein. Der Abend war zwar kühl, doch ein kleines elektrisches Feuer spendete genug Wärme für die Benutzung der Terrassentische. Ich suchte mir einen aus und bestellte ein Glas Chianti. Eine Weile nippte ich daran, während das Notizbuch vor mir auf dem Papierplatzdeckchen lag, verborgen im Schatten eines Körbchens Knoblauchbrot.

Es war Ende April. Nur noch ein paar Tage bis zum Maifeiertag – dem Beltanefest. Dem Tag, an dem ich meine eigene ungeplante Reise in die Vergangenheit angetreten hatte. Möglicherweise hatte es ja etwas mit dem Datum zu tun – oder einfach nur mit der allgemeinen Jahreszeit? Bei meiner Rückkehr war es Mitte April gewesen –, das diese gespenstische Passage ermöglichte. Vielleicht aber auch nicht; vielleicht hatte die Jahreszeit gar nichts damit zu tun. Ich bestellte noch ein Glas Wein.

Es konnte ja sein, dass nur bestimmte Menschen die Fähigkeit besaßen, eine Barriere zu durchdringen, die für alle anderen massiv war – eine genetische Veranlagung? Wer wusste das schon? Jamie war nicht in der Lage gewesen, die Passage zu betreten, während ich es konnte. Geillis Duncan hatte es offensichtlich getan – oder würde es tun. Oder auch nicht, je nachdem. Ich dachte an Roger Wakefield, und mir wurde schwindelig. Vielleicht sollte ich zu dem Wein doch besser etwas essen.

Seit dem Besuch im Institut war ich überzeugt, dass Gillian/Geillis die schicksalhafte Reise noch nicht angetreten hatte, wo auch immer sie sich befand. Jeder, der mit den Legenden der Highlands vertraut war, würde wissen, dass das Beltanefest näher rückte; wer eine solche Expedition im Sinn hatte, würde sie doch gewiss dann unternehmen? Aber ich hatte keine Ahnung, wo sie sein mochte, wenn sie nicht zu Hause war; versteckt? Vollführte sie einen besonderen Ritus zur Vorbereitung, den sie vielleicht bei Fionas Neo-Druidinnen aufgeschnappt hatte? Möglich, dass das Notizbuch einen Hinweis enthielt, doch Gott allein wusste es genau.

Gott allein war auch der Einzige, der wusste, was für Motive ich bei alldem hatte; ich hatte zwar geglaubt, es zu wissen, doch ich war mir nicht mehr sicher. Hatte ich Roger in die Suche nach Geillis verwickelt, weil ich es für die einzige Möglichkeit hielt, Brianna zu überzeugen? Und doch – selbst wenn wir sie fanden, ließ sich meine Absicht nur erfüllen, wenn es Gillian gelang zurückzugehen. Was ihren Flammentod bedeutete.

Als man Geillis Duncan als Hexe verurteilte, hatte Jamie zu mir gesagt: »Trauere nicht um sie, Sassenach; sie ist ein durchtriebener Mensch.« Und ob sie nun durchtrieben oder verrückt war, hatte damals keinen großen Unterschied bedeutet. Hätte ich die Dinge nicht ruhen lassen sollen und sie ihrem Schicksal überlassen sollen? Dennoch, so dachte ich, sie hatte mir einmal das Leben gerettet. Schuldete ich ihr nicht allem, was sie war – was sie sein würde –, zum Trotz den Versuch, sie zu retten? Und damit möglicherweise Roger zu verdammen? Welches Recht hatte ich, mich noch weiter einzumischen?

Es ist keine Frage des Rechts, Sassenach, hörte ich Jamies Stimme mit einem Hauch von Ungeduld sagen. Es ist eine Frage der Pflicht. Der Ehre.

»Ehre, ja?«, fragte ich laut. »Und was ist das?« Der Kellner mit meinen Tortellini Portofino sah mich verblüfft an.

»Häh?«, sagte er.

»Egal«, sagte ich, zu sehr abgelenkt, um mich groß daran zu stören, was er von mir dachte. »Vielleicht sollten Sie mir lieber den Rest der Flasche bringen.«

Ich aß, umringt von Geistern. Gestärkt von Essen und Wein, schob ich schließlich meinen leeren Teller beiseite und öffnete Gillian Edgars’ graues Notizbuch.

Kapitel 49

Selig sind die …

Es gibt keinen Ort, der dunkler ist als eine Highlandstraße in einer mondlosen Nacht. Hin und wieder konnte ich vorüberfahrende Scheinwerfer aufblitzen sehen, die Rogers Kopf und Schultern in plötzliches Gegenlicht tauchten. Er hatte sie vornübergebeugt, als wollte er sich gegen eine nahende Gefahr verteidigen. Auch Brianna saß vornübergebeugt da, neben mir in die Ecke der Rückbank gedrängt. Jeder von uns dreien war für sich, von den anderen isoliert, in seine eigene Blase aus Schweigen gehüllt, umgeben vom großen Schweigen im Inneren des dahinrasenden Autos.

Meine Hände krümmten sich in meinen Manteltaschen zu Fäusten und griffen achtlos nach Münzen und kleinen Gegenständen; einem zerfetzten Papiertaschentuch, einem Bleistiftstummel, einem Gummibällchen, das ein kleiner Patient auf dem Boden meines Büros verloren hatte. Mein Daumen umkreiste und identifizierte die gefräste Kante eines amerikanischen Vierteldollars, die große Oberfläche eines englischen Pennys und die gezackte Kontur eines Schlüssels – des Schlüssels zu Gillian Edgars’ Arbeitskabine, den ich nicht im Institut zurückgelassen hatte.

Ich hatte noch einmal versucht, Greg Edgars anzurufen, ehe wir das alte Pfarrhaus verließen. Das Telefon hatte wieder und wieder geklingelt, ohne dass jemand antwortete.

Ich richtete den Blick auf das dunkle Glas des Fensters neben mir, sah aber weder mein eigenes, verschwommenes Spiegelbild noch die massigen Umrisse der Steinmauern und verstreuten Bäume, die in der Nacht vorüberrauschten. Stattdessen sah ich die Bücher, die auf dem Bücherbord in der Kabine aufgereiht standen, ordentlich wie Apothekergläser. Und darunter das Notizbuch, das in feiner, kursiver Handschrift vollgeschrieben war und von Ordnungssinn und Irrsinn zeugte, Mythos und Wissenschaft vermischte, sich bei Gelehrten genau wie bei Legenden bediente und ganz auf die Macht der Träume baute. Für jeden zufälligen Beobachter war es entweder halbgarer Unsinn oder bestenfalls der Entwurf für einen intelligent gemachten, aber albernen Roman. Nur für mich hatte es das Aussehen eines sorgfältig durchdachten Plans.

In einer Parodie auf das wissenschaftliche Arbeiten war der erste Teil des Buches »Beobachtungen« betitelt. Er enthielt zusammenhanglose Referenzen, saubere Zeichnungen und sorgfältig durchnumerierte Tabellen. »Die Position von Sonne und Mond am Beltanefest«, war eine davon überschrieben, und darunter standen mehr als zweihundert Zahlenpaare aufgelistet. Ähnliche Tabellen existierten für den Jahreswechsel und den Mittsommertag, eine weitere für Samhain, das Allerheiligenfest – die überlieferten Feuer- und Sonnenfeste. Und morgen würde die Sonne des Beltane aufgehen.