Roger streckte die Hand aus, um den elektrischen Heizkörper auszuschalten. Der Abend war kalt, doch er konnte nicht länger im Studierzimmer bleiben, wo er vorübergehend Zuflucht gefunden hatte. Er fühlte sich zwar immer noch benommen, doch er konnte es nicht länger hinauszögern. Die Entscheidung musste fallen.
Der Morgen hatte schon gegraut, als die Polizei und der Arzt letzte Nacht endlich fertig waren mit ihren Formularen und Zeugenaussagen, ihrem Pulszählen und den Erklärungsversuchen. »Selig sind die, die glauben, ohne zu sehen«, dachte er noch einmal aus tiefstem Herzen. Vor allem in diesem Fall.
Schließlich waren sie wieder abgezogen mit ihren Formularen, ihren Dienstmarken und ihrem Blaulicht, um die Entfernung von Greg Edgars’ Leiche aus dem steinernen Ring zu überwachen und einen Haftbefehl für seine Frau auszustellen, die ihren Mann in den Tod gelockt und dann vom Tatort geflüchtet war. Um es vorsichtig auszudrücken, dachte Roger wie im Nebel.
Körperlich und geistig erschöpft, hatte Roger die Randalls dem Arzt und Fiona anvertraut und war ins Bett gegangen. Er hatte sich gar nicht erst ausgezogen oder die Bettdecke zurückgeschlagen, sondern sich einfach nur in das willkommene Vergessen fallen gelassen. Gegen Sonnenuntergang von nagendem Hunger geweckt, war er nach unten gestolpert, wo er seine Gäste ähnlich still, wenn auch nicht so ungekämmt dabei angetroffen hatte, wie sie mit Fiona das Abendessen zubereiteten.
Es war eine schweigsame Mahlzeit geworden. Nicht, dass Anspannung herrschte; es war, als liefe die Kommunikation unsichtbar zwischen den Personen am Tisch hin und her. Brianna saß dicht bei ihrer Mutter, und hin und wieder berührte sie sie, während sie etwas zu essen weiterreichte, wie um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich da war. Hin und wieder hatte sie Roger flüchtig unter ihren Wimpern hinweg angesehen, aber nicht mit ihm gesprochen.
Claire hatte wenig gesagt und fast nichts gegessen, sondern reglos und in sich gekehrt dagesessen, still und friedlich wie ein Bergsee in der Sonne. Nach dem Abendessen hatte sie Müdigkeit vorgeschoben und sich entschuldigt, um sich auf die breite Fensterbank am Ende des Flurs zu setzen. Brianna hatte einen raschen Blick auf ihre Mutter geworfen, die am Fenster vom letzten Licht der sinkenden Sonne umrahmt wurde, und war in die Küche gegangen, um Fiona beim Abwasch zu helfen. Roger, dem Fionas gutes Essen schwer im Magen lag, war ins Studierzimmer gegangen, um zu überlegen.
Zwei Stunden später überlegte er immer noch und war bemerkenswert wenig weitergekommen. Bücher lagen unordentlich auf Tisch und Sekretär aufgestapelt, lagen halb aufgeschlagen auf den Sitzflächen der Sessel und an der Sofalehne, und auf den Bücherborden klafften Löcher, die von den Mühen seiner planlosen Suche kündeten.
Es hatte eine Weile gedauert, doch er hatte ihn gefunden – den kurzen Abschnitt, an den er sich von seiner Suche in Claires Auftrag erinnerte. Die Ergebnisse dieser Suche hatten ihr Trost und Frieden gebracht; das würde jetzt anders sein – wenn er es ihr erzählte. Und wenn er recht hatte? Doch es musste so sein; das erklärte auch das abgelegene Grab, so weit von Culloden entfernt.
Er rieb sich das Gesicht und spürte Bartstoppeln. Alles in allem nicht überraschend, dass er vergessen hatte, sich zu rasieren. Wenn er die Augen schloss, konnte er nach wie vor Rauch und Blut riechen; das Gleißen des Feuers auf schwarzem Felsen sehen und die wehenden blonden Haarsträhnen, knapp außerhalb seiner Reichweite. Die Erinnerung ließ ihn erschauern, und plötzlich überkam ihn heftiger Groll. Claire hatte ihm den Seelenfrieden geraubt; war er ihr nicht dasselbe schuldig? Und Brianna – da sie jetzt die Wahrheit kannte, sollte sie nicht alles erfahren?
Claire saß immer noch am Ende des Flurs auf der Fensterbank, die Füße untergeschlagen, und blickte in die schwarze Leere des nachterfüllten Fensters hinaus.
»Claire?« Seine Stimme kratzte, weil er sie so lange nicht benutzt hatte, und er räusperte sich und versuchte es erneut. »Claire. Ich … muss dir etwas sagen.«
Sie wandte sich ihm zu und hob den Kopf, doch in ihrem Gesicht war nicht mehr als ein Hauch von Neugier zu sehen. Es trug einen Ausdruck der Ruhe, den Ausdruck eines Menschen, der Schrecken, Verzweiflung und Trauer und die verzweifelte Bürde des Überlebens getragen – und alles überstanden hat. Er sah sie an und glaubte plötzlich, es nicht zu können.
Doch sie hatte die Wahrheit gesagt; er musste dasselbe tun.
»Ich habe etwas gefunden.« Er hob das Buch in einer knappen, nutzlosen Geste. »Über … Jamie.« Den Namen laut auszusprechen, schien ihm Kraft zu verleihen, als sei der schottische Hüne vom Klang seines Namens heraufbeschworen worden und stünde nun leibhaftig und reglos im Flur zwischen seiner Frau und Roger. Roger holte tief Luft, dann war er bereit.
»Was denn?«
»Was er als Letztes vorhatte. Ich glaube … ich glaube, er hat es nicht geschafft.«
Ihr Gesicht erbleichte plötzlich, und sie blickte mit weit aufgerissenen Augen auf das Buch.
»Seine Männer? Aber ich dachte, du hättest herausgefunden …«
»Das habe ich auch«, unterbrach Roger. »Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ihm das gelungen ist. Er hat die Männer aus Lallybroch beiseitegeschafft; er hat sie vor Culloden gerettet und sie auf den Heimweg geschickt.«
»Aber dann …«
»Er hatte vor zurückzukehren – zurück in die Schlacht –, und ich glaube, auch das hat er getan.« Seine Zurückhaltung wuchs, doch es musste gesagt werden. Da er selbst keine Worte fand, schlug er das Buch auf und las vor:
»Nach der entscheidenden Schlacht von Culloden suchten achtzehn jakobitische Offiziere, alle verwundet, Zuflucht in dem alten Haus und lagen zwei Tage unter Schmerzen dort, ohne dass man ihre Verletzungen versorgte; dann holte man sie ins Freie, um sie zu erschießen. Einer von ihnen, ein Fraser aus dem Regiment des jungen Lovat, entkam dem Gemetzel; die anderen sind am Rand der Parkanlage begraben.«
Leise wiederholte er den letzten Satz. »Einer von ihnen, ein Fraser aus dem Regiment des jungen Lovat, entkam …« Er blickte von der nüchternen Buchseite auf und sah ihre Augen, groß und blicklos wie die eines Rehs im Scheinwerferlicht eines nahenden Autos.
»Er hatte vor, auf dem Feld von Culloden zu sterben«, flüsterte Roger. »Doch es ist anders gekommen.«
Danksagung
Der Dank und die besten Wünsche der Autorin gehen an …
… die drei Jackies (Jackie Cantor, Jackie LeDonne und meine Mutter), die Schutzengel meiner Bücher.
… die vier Johns (John Myers, John E. Simpson jr, John Woram und John Stith) für ihre Lesertreue, für schottische Anekdoten und allgemeine Begeisterung.
… Janet McConnaughey, Margaret J. Campbell, Todd Heimarck, Deb und Dennis Parisek, Holly Heinel und alle die anderen LitForumisten, die nicht mit dem Buchstaben »J« anfangen – vor allem Robert Riffle für Spitzwegerich, französische Epitheta, Elfenbeinklaviaturen und seinen untrüglichen Blick; Paul Solyn für spätblühendes Vergissmeinnicht, Walzertänze, Kupferstiche und botanische Tipps; Margaret Ball für interessante Quellen, nützliche Hinweise und großartige Unterhaltungen; Fay Zachary für das Mittagessen; Dr. Gary Hoff für seinen Rat als Mediziner (er hatte nichts mit den Beschreibungen zu tun, wie man jemandem die Eingeweide herausnimmt); den Dichter Barry Fogden für Übersetzungen aus dem Englischen; Labhriunn MacIan für gälische Verwünschungen und die großzügige Erlaubnis, seinen wunderbar poetischen Namen zu benutzen; Kathey Allen-Webber für die Französisch-Nachhilfe (falls irgendetwas immer noch im falschen Tempus ist, ist es meine Schuld); Vonda N. McIntyre, die mir diverse Betriebsgeheimnisse verraten hat; Michael Lee West für ihre wundervollen Kommentare zu diesem Buch und jene Art von Telefongesprächen, die meine Familie schreien lassen: »Jetzt leg schon auf! Wir haben Hunger!«; Michael Lees Mutter, die beim Lesen des Manuskriptes immer wieder den Kopf gehoben hat, um ihre von der Kritik gefeierte Tochter zu fragen: »Warum kannst du nicht auch einmal so was schreiben?«, und Elizabeth Buchan, die unablässig nachgefragt, Vorschläge gemacht und mir guten Rat erteilt hat. Eure Mühe war fast so gigantisch wie die Hilfe, die ihr mir gewesen seid.