»Tatsächlich?« Ich kletterte ebenfalls aus dem Bett und tastete nach dem Nachtgeschirr unter dem Bett. »Wenn er es zu Ende bringen will, wäre es doch besser, wenn er keine Zeugen hat.«
Jamies Kopf tauchte mit hochgezogenen Augenbrauen in seinem Hemdausschnitt auf.
»Zu Ende bringen?«
»Nun, die meisten deiner anderen Verwandten scheinen doch darauf aus zu sein, dich oder mich umzubringen, warum nicht auch Jared? Er hat es doch schon fast geschafft, dich zu vergiften.«
»Sehr komisch, Sassenach«, sagte er trocken. »Hast du etwas Anständiges anzuziehen?«
Ich hatte unterwegs ein praktisches graues Sergekleid getragen, das ich mit Hilfe des Almoseniers im Kloster Ste. Anne erworben hatte, aber ich hatte auch das Kleid noch, in dem ich aus Schottland geflohen war, ein Geschenk von Lady Annabelle MacRannoch. Der hübsche blattgrüne Samt ließ mich zwar ziemlich blass aussehen, doch modisch war das Kleid.
»Ich glaube schon, wenn es nicht zu viele Salzwasserflecken hat.«
Ich kniete mich vor unsere kleine Reisetruhe, um den grünen Samt auseinanderzufalten. Jamie kniete sich neben mich und schlug den Deckel meiner Medizinkiste zurück, um die darin verpackten Fläschchen und Schachteln und Gazebeutelchen mit Kräutern zu begutachten.
»Hast du hier irgendetwas gegen furchtbare Kopfschmerzen, Sassenach?«
Ich blickte ihm über die Schulter, dann griff ich in die Kiste und berührte ein Fläschchen.
»Andorn könnte helfen, obwohl es nicht das beste Mittel ist. Und Weidenrindentee mit Fenchelsamen wirkt gegen die Säuferleber, muss aber lange ziehen. Am besten wäre vermutlich ein rohes Ei mit Pfeffer und Salz.«
Er richtete ein argwöhnisches blaues Auge auf mich.
»Das klingt widerlich.«
»Das ist es auch«, sagte ich fröhlich. »Im Zweifelsfall geht es dir besser, nachdem du dich übergeben hast.«
»Mpfm.« Er stand auf und schob den Nachttopf mit dem Zeh in meine Richtung.
»Übergeben am Morgen ist deine Sache, Sassenach«, sagte er. »Sieh zu, dass du es hinter dich bringst, und zieh dich an. Ich ertrage die Kopfschmerzen schon.«
Jared Munro Fraser war ein kleiner, schmaler, schwarzäugiger Mann, der einige Ähnlichkeit mit seinem entfernten Verwandten Murtagh hatte, Jamies Patenonkel, der uns nach Le Havre begleitet hatte. Als ich Jared das erste Mal sah, stand er majestätisch im weit offenen Tor seines Lagerhauses, so dass Ströme von Hafenarbeitern, die mit Fässern beladen waren, gezwungen waren, um ihn herumzugehen, und die Ähnlichkeit war so groß, dass ich mir die Augen rieb. Soweit ich wusste, befand sich Murtagh in unserem Wirtshaus, wo er sich um ein lahmes Pferd kümmerte.
Jared hatte das gleiche strähnige, dunkle Haar und die gleichen durchdringenden Augen; den gleichen sehnigen, affenähnlichen Körperbau. Doch dann endete die Ähnlichkeit, und als wir uns jetzt näherten, indem mir Jamie ritterlich mit den Ellbogen und Schultern einen Weg durch den Pöbel schlug, konnte ich auch die Unterschiede sehen. Jareds Gesicht war länglich, nicht birnenförmig, mit einer fröhlichen Stupsnase, die den Eindruck von Würde zunichtemachte, den er aus der Ferne durch seine exzellente Kleidung und seine aufrechte Haltung erweckte.
Kein Viehdieb, sondern ein erfolgreicher Kaufmann, und er wusste auch, wie man lächelte – anders als Murtagh, dessen natürlicher Gesichtsausdruck die pure Sturheit war –, und so breitete sich ein herzliches Grinsen über sein Gesicht, als wir die Rampe hinauf vor ihn hin geschubst wurden.
»Meine Liebe!«, rief er aus, nahm mich beim Arm und zerrte mich behende aus dem Weg zweier Stauer, die ein gigantisches Fass durch das breite Tor rollten. »Welche Freude, dich endlich zu sehen!« Das Fass rumpelte lautstark über die Planken der Rampe, und ich konnte den Inhalt gluckern hören, als es an mir vorbeirollte.
»Mit Rum kann man so umgehen«, bemerkte Jared, während er den beschwerlichen Weg des Fasses entlang der Hindernisse des Lagerhauses beobachtete, »nur nicht mit Port. Den bringe ich immer persönlich hoch, genau wie den Flaschenwein. Ich wollte gerade aufbrechen, um mich um eine neue Lieferung Belle Rouge Port zu kümmern. Wärt ihr vielleicht daran interessiert, mich zu begleiten?«
Ich sah Jamie an; er nickte, und auf der Stelle setzten wir uns in Jareds Kielwasser in Bewegung. Wir wichen dem rumpelnden Verkehr der Fässer und Schubkarren aus und den Männern und Jungen in allen Größen und Formen, die Stoffballen, Kisten mit Korn und Lebensmitteln, Rollen aus Kupferblech und Mehlsäcke trugen und alles, was man sonst per Schiff transportieren konnte.
Le Havre war ein wichtiger Umschlagplatz für den Schiffsverkehr, und die Docks waren das Herz der Stadt. Ein langer, massiver Kai erstreckte sich fast eine Viertelmeile weit an der Hafenkante entlang, und an den kleineren Docks, die von dort ins Wasser ragten, lagen Dreimaster und Brigantinen, Segelboote und kleine Galeeren vor Anker; ein kompletter Querschnitt der Schiffe, die Frankreich versorgten.
Jamie hielt mich fest am Ellbogen gepackt, um mich besser beiseitezureißen, wenn uns Handkarren, rollende Fässer oder achtlose Kaufleute oder Seemänner entgegenkamen, die beim Gehen meistens nicht hinsahen, sondern sich einfach darauf verließen, dass schiere Geschwindigkeit sie durch das Gedränge der Docks beförderte.
Auf unserem Weg über den Kai war Jared so höflich, mich auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam zu machen und mir in abruptem Stakkato die Geschichte und die Besitzverhältnisse der diversen Schiffe zu erklären. Die Arianna, zu der wir unterwegs waren, war eins seiner eigenen Schiffe. So wie ich es verstand, konnte ein Schiff einem einzelnen Besitzer gehören, öfter jedoch einer Gemeinschaft von Kaufleuten, die es zusammen besaß, oder hin und wieder auch einem Kapitän, der sein Schiff, seine Mannschaft und seine Dienste vermietete. Angesichts der vielen Schiffe, die sich in Gemeinschaftsbesitz befanden, und der vergleichsweise wenigen, die Einzelpersonen gehörten, bekam ich allmählich eine sehr respektvolle Vorstellung von Jareds Vermögen.
Die Arianna lag in der Mitte der Reihe verankert, dicht bei einem großen Lagerhaus, auf dem in schrägen weißen Buchstaben der Name FRASER stand. Der Anblick des Namens versetzte mir einen seltsamen kleinen Stoß, ein plötzliches Gefühl der Verbundenheit und der Dazugehörigkeit – und die Erkenntnis, dass ich diesen Namen teilte und damit die Verwandtschaft mit jenen anerkannte, die ihn trugen.
Die Arianna war ein Dreimaster, vielleicht zwanzig Meter lang, mit einem breiten Bug. Auf der dem Dock zugewandten Seite waren zwei Kanonen montiert, wahrscheinlich zur Abwehr von Räubern auf hoher See. Überall an Deck schwärmten Männer umher, die vermutlich eine Aufgabe erfüllten, obwohl der Anblick vor allem an ein Ameisennest erinnerte, das angegriffen wurde.
Alle Segel waren gerefft und festgebunden, doch die steigende Flut bewegte das Schiff sacht hin und her und ließ den Bugspriet auf uns zuschwingen. Dieser trug eine Galionsfigur mit einer ziemlich grimmigen Visage; auf ihrem formidablen blanken Busen und ihren wirren Locken glitzerte das Salz, doch die Dame sah nicht so aus, als hätte sie eine besondere Vorliebe für die Seeluft.
»Ist sie nicht ein hübsches kleines Ding?«, fragte Jared mit einer ausladenden Handbewegung. Ich ging davon aus, dass er das Schiff meinte, nicht die Galionsfigur.
»Sehr hübsch«, sagte Jamie höflich. Ich sah den beklommenen Blick, den er auf die Wasserlinie warf, wo die kleinen Wellen dunkelgrau gegen den Schiffsrumpf plätscherten. Offenbar hoffte er, dass wir nicht verpflichtet sein würden, an Bord zu gehen. Jamie Fraser war zwar ein tapferer Krieger, dem es im Kampf nicht an Klugheit, Kühnheit und Mut fehlte, doch er war auch ein Landei.
Definitiv keiner jener abgehärteten schottischen Seefahrer, die von Tarwathie aus auf Walfang gingen oder auf der Suche nach Reichtum die Welt bereisten, denn er litt so akut an der Seekrankheit, dass unsere Überfahrt nach Frankreich im Dezember ihn beinahe umgebracht hatte, so geschwächt, wie er damals durch die Nachwirkungen der Folter und des Kerkers war. Zwar war seine Trinkorgie mit Jared gestern nicht in derselben Kategorie anzusiedeln, doch zu seiner Seetüchtigkeit hatte sie vermutlich auch nicht beigetragen.