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Robert Silverberg

Die Gesänge des Sommers

1. Kennon

Ich war unterwegs, um am Singen teilzunehmen und Corilanns Versprechen einzulösen. Ich ging gerade über das Feld, als plötzlich der Mann auftauchte, der Mann namens Chester Dugan. Er schien vom Himmel zu fallen.

Ich beobachtete, wie er ein paar Augenblicke benommen um sich sah. Ich wußte nicht, woher er so plötzlich gekommen war oder weshalb er hier war. Er war klein — kleiner als irgendeiner von uns und fett — fett auf eine unappetitliche Art und Weise, hatte Runzeln im Gesicht und einen stoppeligen Bart. Ich hatte es eilig, zum Singen zu kommen, und so kümmerte ich mich nicht weiter um ihn, als er auf den Boden fiel, sondern ging weiter. Aber er rief mir in einer barbarischen Sprache, die ich nur mit Mühe als mit unserer eigenen Sprache verwandt erkannte, nach.

„He du!“ rief er, „hilf mir doch!“

Er schien Schwierigkeiten zu haben, und so ging ich zu ihm und war ihm beim Aufstehen behilflich. Er keuchte und schien völlig durcheinander. Als ich sah, daß er wieder ohne Hilfe stehen konnte und mich nicht mehr zu brauchen schien, ging ich weiter, denn ich hatte es eilig, zum Singen zu kommen und wollte mich nicht in die Angelegenheiten dieses Mannes mischen. Letztes Jahr hatte ich zum erstenmal an dem Singen bei Dandrin teilgenommen, und es hatte mir sehr gut gefallen. Damals hatte Corilann ihr Versprechen abgegeben. Ich hatte es also sehr eilig.

Aber er rief mir wieder nach. „Laß mich nicht allein!“ schrie er. „He, du kannst doch nicht einfach so weggehen! Hilf mir!“

Ich wandte mich um und ging zurück. Er trug seltsame Kleider — sie waren ausgesprochen häßlich und eng und paßten nicht zueinander. Er ging im Kreise herum, offensichtlich um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. „Wo bin ich?“ fragte er mich.

„Auf der Erde natürlich“, sagte ich.

„Nein“, brummte er. „Das meine ich nicht, Idiot. Wo auf der Erde?“

Das verstand ich nicht. ,Wo auf der Erde?’ Hier einfach — mehr wußte ich auch nicht. Auf der großen Ebene zwischen meinem Haus und dem von Dandrin, wo das Singen stattfinden wird. Ich begann unruhig zu werden. Dieser Mann schien schwerkrank, und ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich war froh, daß ich zumSingen ging, denn allein hätte ich bestimmt nicht helfen können. Ich erkannte, daß ich doch nicht so selbständig war, wie ich immer dachte.

„Ich gehe zum Singen“, sagte ich. „Du auch?“

„Ich gehe gar nirgends hin, bevor du mir nicht sagst, wo ich bin und wie ich hierhergekommen bin. Wie heißt du?“

„Kennon. Du bist jetzt auf der großen Ebene in der Nähe von Dandrins Haus, wo das Singen sein wird, denn es ist Sommer. Komm’, ich habe es eilig. Du kannst ja mit mir gehen, wenn du willst.“

Ich machte mich zum zweitenmal auf, und diesmal begann er mir zu folgen. Wir gingen eine Weile schweigend dahin.

„Sag’, Kennon“, meinte er nach vielleicht hundert Schritten, „vor zehn Sekunden war ich in New York, jetzt bin ich hier. Wie weit ist es von hier nach New York?“

„Was ist New York?“ fragte ich. Auf diese Frage hin zeigte er Anzeichen von Ungeduld und Ärger, und ich begann mir Sorgen zu machen.

„Wo haben sie dich denn losgelassen?“ schrie er. „Du hast noch nie etwas von New York gehört? Du hast noch nie etwas von New York gehört? New York“, erklärte er dann, „ist eine Stadt mit acht Millionen Einwohnern und liegt am Atlantischen Ozean, an der Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika. Jetzt mach mir bloß nicht vor, daß du davon noch nie gehört hast.“

„Was ist eine Stadt?“ fragte ich verwirrt. Darauf wurde er noch ärgerlicher. Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum.

„Gehen wir schneller“, sagte ich. Ich hatte jetzt erkannt, daß ich offensichtlich unfähig war, mit diesem Mann zu reden und wollte schnell zum Singen kommen — wo vielleicht Dandrin oder die anderen ihn verstehen würden.

Er fragte noch weiter, doch meine Antworten schienen ihn nicht zu befriedigen …

2. Chester Dugan

Ich weiß nicht, was geschah oder wie — ich weiß nur, daß ich plötzlich hier war. Einen Weg zurück scheint es nicht zu geben, aber das ist mir egal, mir geht es hier gut, und ich werde diesen Hohlköpfen schon zeigen, wer der Boss ist.

Das letzte was ich weiß, war, daß ich in die U-Bahn stieg, dann gab es eine Explosion und einen grellen Lichtblitz, und ehe ich sah, was passiert war, verlor ich das Bewußtsein und kam irgendwie hierher.

Ich landete auf einem großen Feld, wo weit und breit nichts zu sehen war. Ich brauchte ein paar Minuten, um den Schock zu überwinden. Ich glaube, ich bin hingefallen, aber das weiß ich nicht bestimmt. Das ist zwar nicht meine Art, aber das war etwas Außergewöhnliches, und es kann durchaus sein, daß ich für kurze Zeit die Besinnung verlor.

Jedenfalls kam ich gleich wieder zu mir und blickte mich um, und da sah ich den jungen Burschen in seinem wallenden Gewand ganz in der Nähe über das Feld gehen.

Als ich merkte, daß er gar keine Anstalten machte, mir zu Hilfe zu kommen, schrie ich ihm nach. Er kam her, half mir beim Aufstehen und wollte dann wieder weitergehen — ganz ruhig, als wäre nichts passiert. Ich mußte ihm noch einmal nachschreien, denn er schien gar keine Lust zu haben, sich um mich zu kümmern.

Ich versuchte aus ihm herauszubringen, wo wir waren, aber er spielte den Dummen. Er wußte nicht, wo wir waren, wußte nicht, wo New York war, nicht einmal was eine Stadt ist — das behauptete er wenigstens. Normalerweise hätte ich ihn für einen Verrückten gehalten, aber ich wußte nicht, was mir selbst zugestoßen war, und so hätte es gut sein können, daß ich der Verrückte war und nicht er.

Jedenfalls kam ich mit ihm auf keinen grünen Zweig, und so gab ich es auf. Er sagte nur immer wieder, daß er zum Singen gehen wollte, und so wie er das sagte, schien das etwas sehr Wichtiges für ihn zu sein. Er sagte, dort wären Männer, die mir helfen könnten.

Aber ich weiß auch heute noch nicht, wie ich hierherkam. Selbst nachdem ich eine Menge Leute gefragt hatte, konnte keiner mir sagen, wie es kam, daß ich im Jahre 1968 in eine U-Bahn stieg und in einem freien Feld irgendwann im 35. Jahrhundert landete. Diese Esel haben sogar die genaue Zeitrechnung verloren.

Aber hier bin ich, und das ist alles, worauf es ankommt. Und alles, was vorher war, ist dahin. Ich muß von vorne wieder anfangen — sozusagen von der Pike auf. Und das ich, Dugan! Aber es wird schon werden.

Nachdem dieser junge Bursche und ich eine Weile über die Felder gestiefelt waren, hörte ich Stimmen. Es begann inzwischen zu dämmern. Ich habe noch gar nicht erwähnt, daß es im Jahre 1968 gerade November wurde, aber hier regierte der Sommer. Die Luft roch frisch und angenehm, ganz anders als dieser Mief, den man in New York einatmet.

Der Gesang wurde immer lauter, je näher wir kamen, aber als wir in Sichtweite waren, hörte er plötzlich auf.

Sie saßen in einem großen Kreis, zwanzig oder dreißig vielleicht, und trugen alle leichte, luftige Kleidung. Sie sahen uns alle an, als wir näher kamen.

Ich hatte das Gefühl, daß sie meine Gedanken lasen.

Das Schweigen hielt ein paar Minuten an, dann begannen sie wieder zu singen. Ein großer dürrer Bursche sang vor, und die anderen antworteten im Chor. Um mich kümmerten sie sich überhaupt nicht. Ich ließ sie eine Weile weitersingen, bis ich einen Plan hatte — ich halte nämlich nichts davon, mich kopfüber in eine Sache zu stürzen, ehe ich nicht genau weiß, was ich tue.

Ich wartete, bis der Gesang etwas leiser wurde und schrie dann: „Halt!“ Ich trat in ihren Kreis.

„Mein Name ist Dugan“, sagte ich laut und deutlich, „Chester Dugan. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin und ich weiß nicht, wo ich bin, aber ich gedenke eine Weile zu bleiben. Wer ist hier der Boss?“