,Noch ist es nicht zu spät', sagte er, ,die See ist ruhig.
Wir können fliehen. Befreie mein Volk. Auf fremder Erde werdet Ihr neue Sklaven finden."
Als der verblüffte alte Priester aus seiner Erstarrung erwachte, überzeugte er sich davon, daß der Sklave ihn nicht belogen hatte. Da packte ihn kaltes Grauen.
,Du hast es weiter gebracht als ich', sagte er leise, doch aus seiner Stimme klang das Zischen einer Schlange. ,Nun gut. Du hast ergründet, was mir, einem Diener Gottes, zu ergründen nicht gegeben war. Nun gut. Doch soll außer dir niemand das Geheimnis erfahren. Da du ein geschwätziger Sklave bist, wirst du noch heute sterben.'
Auf das Dröhnen des Gongs eilte die Wache herbei. Der Sklave wehrte sich verzweifelt. In dieser Minute war er stark wie eine ganze Elefantenherde, denn er wußte, wie nötig ihn sein Volk jetzt brauchte. Dieser Weise war ein Sklave, doch in seinem Herzen wohnte die Liebe zu den Menschen. Sie war es, die ihm diese urgewaltigen Kräfte verlieh. So entkam er ins Gebirge. Zehn der tapfersten Krieger von Atlantis lagen in ihrem Blut.
Als die Dämmerung auf das Land sank, schlich sich der Flüchtling hinab in die Behausungen der Sklaven, wo er die Nacht verbrachte. Bevor die Sonne aufging, verschwand er wieder, diesmal für lange Zeit.
Seit jenem Tage wußten die Atlantisbürger, was Furcht ist. Sie sangen die alten Lieder, und sie lachten, als wäre nichts geschehen, als hoffte ein jeder, daß man den Warnungen des Sklaven keinen Glauben zu schenken brauchte. Aber in den Häfen lagen abfahrbereit die Schiffe der Priester und des Herrschers. Da die Bürger dies sahen, verstärkte sich in ihren Herzen die Angst, und wenn sie lachten, blieben die Augen ernst. Mit dem Entsetzen wuchs der Zorn auf die Priester, die ihnen bei Todesstrafe verboten hatten, das Land zu verlassen. Um das Volk seine Unzufriedenheit vergessen zu machen, veranstalteten die Gottesdiener Feste und opferten der Sonne noch häufiger als zuvor. Diejenigen aber, die am Fuße der Berge wohnten, vernahmen aus der Erde ein dumpfes Stampfen. Bald hörte es sich an wie metallene Schläge auf Gestein, bald klang es wie das Getöse einer niedergehenden Steinlawine. Alle dachten, das seien die Götter, die dort unten lebten, sie bahnten sich einen Weg durch die Felsen. Von Entsetzen gepackt, verließen die Leute ihre Häuser.
Was da in einer Höhle unter den Bergen lebte, war jedoch ein Mensch. Er hatte nur wenig zu essen, häufig quälte ihn der Durst, doch Tag und Nacht schuf er an seinem steinernen Reiter. Er arbeitete schnell, denn an den Höhlenwänden war zu hören, wie es in den tieferen Schichten des Erdinnern rumorte. Daher wußte der Sklave, daß das Ende nahe war.
Und eines Tages kehrte er zurück.
Er schritt durch die ganze Stadt, doch niemand wagte, sich ihm zu nähern. Er war dorther gekommen, von wo es keine Rückkehr gab. Die Menge folgte ihm auf den Fersen. An der Küste machte er halt. Zu seinen Füßen leuchtete das Meer.
,Bald ist es soweit', erklärte er müde. ,Wie ich sehe, seid ihr nicht dem weisen Rat jener gefolgt, die vor euch hier lebten, sondern im Lande geblieben. Doch nicht euretwegen, nur meines geknechteten Volkes wegen habe ich dies getan. Es kommt der Tag, da die Erde erbebt, das Meer gegen die Küste rennt und die Felsen bersten werden. So war es schon dreimal, so wird es auch ein viertes Mal sein. So steht es geschrieben. Auf einem Berg aber wird sich dann ein steinerner Reiter erheben, um denen, die noch am Leben sind, den Weg zu weisen. Diejenigen jedoch, die nach Osten zu entkommen suchen, werden von den Fluten verschlungen werden, denn wo die Sonne aufgeht, wird das Meer zu brodeln beginnen. So steht es auf den alten Tafeln.'
Sie hörten ihn schweigend an. Er war ein Sklave und sein Leben kein Sandkorn wert, aber niemand getraute sich, ihn zu berühren.
Ein Jüngling spannte den Bogen. Doch als er schoß, entglitt die Waffe seiner Hand. Der Pfeil streifte den Sklaven nur am Bein. Aus der Wunde sickerte Blut. Als die Atlantisbürger das Blut sahen, begriffen sie, daß ein ganz gewöhnlicher Mensch vor ihnen stand, ein Sklave, der dreifach gegen das Gesetz verstoßen hatte.
Da warfen sie sich schweigend, mit wutverzerrten Gesichtern auf ihn, als könnte sein Tod sie von der Furcht vor ihrem unvermeidlichen Untergang befreien, als wäre nur er zum Sterben verdammt, doch sie selber dürften hoffen, ihrem Schicksal zu entgehen.
Diejenigen aber, die Sklaven waren wie er, rührten sich nicht von der Stelle. Wie hätten sie ihm helfen sollen ohne Waffen?
Zu seinen Füßen leuchtete Meer. Das schäumende Wasser leckte an den Felsen. Von oben wirkten die Wellen winzig wie gekräuselter Sand.
Und er stürzte sich hinab. Wer ganz vorn stand, sah, wie sein schwarzer Kopf aus den Fluten auftauchte, dann wieder verschwand, sich erneut an der Oberfläche zeigte, aber schon von der Küste abgetrieben wurde.
Schließlich kam der Abend. Die Sonne wurde platt wie eine Scheibe. Sie berührte den Horizont. Ihre Strahlen glitten über die Wasserfläche. Bis die Dunkelheit hereinbrach, erkannten die Atlantisbürger auf den blutroten Wellen einen schwarzen Punkt, der bald hinter einem Schaumkamm verschwand, bald wieder auftauchte und immer kleiner wurde.
Dort, wo der Sklave hinschwamm, gab es keine Insel. Nur Meer, nichts als Meer.
Endlich sank die Nacht herab."
Jurka legte das Heft beiseite.
„Und wie geht es weiter?" fragte Petka ungeduldig.
„Hat er sich gerettet?"
„Das weiß ich auch nicht. Darüber steht hier nichts."
Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Jurka war auf allerlei Fragen gefaßt. Es gab vieles, was einem keine Ruhe ließ. Er wußte das aus Erfahrung.
„Wo hast du das Heft her?" erkundigte sich Dimka.
„Ich habe es gefunden. Auf der Straße. Ja, wo kommt es her? Das habe ich mich auch gefragt. Vielleicht ist ein Schriftsteller vorbeigegangen, der es verloren hat?"
Dimka lachte. „Schriftsteller? Bei uns? Was soll ein Schriftsteller in Ust-Kamensk? Die Mücken zählen?"
„Da hast du recht", erwiderte Jurka nachdenklich. „Aber dort, in Atlantis, muß es herrlich gewesen sein. Die Insel, das Meer. Ein Leben! Wahrscheinlich kann man dort das ganze Jahr über baden. Wißt ihr, ich hatte ja alles schon gelesen. Es kam mir sehr komisch vor. Was denn, dachte ich, früher sollen die Menschen so edel und kühn gewesen sein? Einer ist sogar vom Felsen gesprungen und losgeschwommen. Ich habe es nicht geglaubt."
Dimka wünschte sich: „In diesem Land möchte ich auch leben, aber mit einem Maschinengewehr. Das wäre schön. Stellt euch vor, ich würde die Burschen mit ihren Speeren auf zweihundert Meter rankommen lassen und sie dann mit einer Garbe empfangen. Nach dem Sieg wäre ich bei ihnen Zar oder was Ähnliches."
,,Ja, du würdest einen prächtigen Zaren abgeben", sagte Petka mit Überzeugung. „Früher dachte ich immer: An wen erinnert er mich nur? Heute weiß ich es. An einen Zaren."
„Das stimmt aber nicht", protestierte Dimka verwirrt. „Ich bin ein ganz anderer Schlag. Wenn es nach mir gegangen wäre — ich hätte alle Sklaven befreit und danach eine Art Kommunismus errichtet."
Wieder schwiegen die Jungen eine Zeitlang. Sie waren seit langem befreundet. Häufig gab es Streit zwischen ihnen. Bisweilen verkrachten sie sich auch. Diesmal waren sie alle von demselben Gedanken beseelt, sahen die gleichen bunten und lichten Bilder. In ihrer Phantasie entstand eine erstrebenswerte Welt voll schöner, kühner Menschen.
Vor undenkbar langer Zeit ist Atlantis aus dem Meer aufgetaucht und später wieder darin versunken. Es hat den Menschen ein jahrtausendealtes Rätsel aufgegeben. In Legenden wird dieses Land verherrlicht, in Liedern besungen. Manche von ihnen sind gleichfalls tausend Jahre alt. So ist es nun mal mit vergangener Schönheit. Sie bleibt ewig schön.
„Kann es denn nicht auch sein, daß die Insel heute noch da ist? Vielleicht hat sie bisher nur keiner entdeckt?" meinte Petka schließlich.