„Am besten, wir suchen den, der das Heft verloren hat", äußerte Dimka. „Er weiß es sicherlich. Natürlich müßten wir vorher alles abschreiben. Besorgst du das, Jurka?"
„Schön, das kann ich machen", willigte Jurka ein.
„Aber die Hauptsache wißt ihr noch gar nicht." Vor Aufregung richtete er sich hoch und blickte seine Freunde groß an.
Dann erzählte er ihnen von dem Menschen, der im Eis eingefroren war, und von dem großen Meer, das sich vor vielen, vielen Jahren in dieser Gegend erstreckt hatte. Dabei geriet er dermaßen in Eifer, daß er mit den Armen fuchtelte. Jurka war von der Wahrheit seiner Worte überzeugt. Diese Überzeugung strahlte auf Petka und Dimka über. Sie glaubten ihrem Freund, weil sie wünschten, daß er recht hatte. Atlantis schien in greifbare Nähe gerückt zu sein. Es war, als brauchte man nur die Hand auszustrecken, um das Märchenland zu berühren.
Vor ihnen lag eine Straße, die zu neuen Entdeckungen und unerhörtem Ruhm führte.
VII Andere Gegenden
Die Tunguska ist ein reißender, in seinem engen Felsenbett mühsam gebändigter Fluß mit wunderbar klarem Wasser.
Das orangefarbene Boot bewegte sich nach Osten, stromauf. Wäre es in die entgegengesetzte Richtung gefahren, hätte ein Betrachter aus der Ferne meinen können, dort schaukele ein Stück Apfelsinenschale auf den Wellen. Zur Linken und Rechten sprangen steile Felswände empor. An günstigen Stellen zogen die Jungen das Boot mit einem Schlepptau gegen die Strömung. Wo dies nicht möglich war, griffen sie zu den Rudern.
Sie ruderten im Takt und zogen gemeinsam, aber Petka war Kapitän. Niemand hatte ihn auf diesen Posten gestellt. Es hatte sich von selbst ergeben. Wer sollte Kapitän sein, wenn nicht er?
Sie kamen nur langsam voran. Auf das erste bucklige Kap folgte das zweite, dann das dritte, so ging es weiter, und eins sah immer wie das andere aus.
Im Boot lagen eine zerrissene Zeltbahn mit Flicken aus Sackleinen, zwei Kessel, drei Angeln, ein Beutel mit Lebensmitteln. Außerdem ein zerlöcherter Rettungsring, der die halb verwischte Aufschrift „Sach..." trug. Wenn man ihn schüttelte, rieselten schwarze Korkstückchen heraus. Doch neben dem mit Wasserfarbe bemalten Wimpel, der im Bug an einer Stange flatterte, war es gerade dieses altersschwache Ungeheuer von Rettungsring, das den Kahn erst zu einem richtigen Schiff machte.
Auf beiden Seiten des Flusses lagen bläulich schimmernde Hügel. Lautlos über die Ufer gleitende Wolkenschatten wischten den goldenen Glanz vom Laub der Bäume. Weit und breit kein Hundegebell, kein Laut, kein Rauchfähnchen.
Wer auf einen Hügel klettert und sich umschaut, hat den Eindruck, daß der Himmel am Horizont zur Erde sinkt, um eine riesige, mit Sonnenschein und heißer Sommerluft gefüllte Schale herauszuschneiden, und es scheint, man selber stände im Mittelpunkt dieses unermeßlichen Gefäßes.
Jeder Schrei, der über den Fluß hallt, bricht sich an den schwarzen und braunen Felsen. Wenn er als Echo zurückkommt, ist einem, als wäre er inzwischen um die Welt geflogen.
Während der ersten Tageshälfte genossen die Jungen ihre Freiheit in vollen Zügen. Es ging laut und fröhlich zu. Sämtliche bekannten Lieder wurden gesungen. Sogar der „Kapitän" vergaß zeitweilig, die Stirn zu runzeln, hüpfte wie die andern munter am Ufer entlang oder stand im Boot, reckte sich und stieß übermütige Schreie aus.
Was er in den Sommertag hineinrief, war nicht besonders klug, dafür aber ungewöhnlich laut: „Wir fahren! Hurra! Setzt die Segel! Richt't euch!"
Ringsum dehnte sich still und endlos die Taiga. Nein, dieses Stück Erde konnte selbst durch das Triumphgeheul des „Kapitäns" nicht aus dem ewigen Schlummer geschreckt werden. Dafür war die Taiga zu groß.
Dann kam der Zeitpunkt, wo die Bootsinsassen müde wurden. Jurka hatte Schwielen an den Händen. Er bewegte die Ruder nur noch mit Widerwillen, als hielte er zwei verendete Katzen zwischen den Fingern. Dimka hatte sich die Schulter an dem Schlepptau wundgescheuert, Petka das Schienbein an einem Stein aufgeschlagen. Wenn es so weiterging, würde in zwei, drei Tagen keiner mehr eine heile Stelle am Körper haben. Doch bekanntlich stellen sich dergleichen Beschwerden nur am Anfang ein. Die Hände mußten sich mit Hornhaut bedecken, die Beine geschickter werden.
„Na, dann wollen wir mal essen, was?" schlug Dimka vor, in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, daß er überhaupt nicht hungrig war, nur fürchtete, die Lebensmittel könnten verderben.
„Da hat er recht", meinte Jurka und hörte gleich zu rudern auf. „Komm, Petka, wir werfen Anker."
Petka erwiderte nichts, spie über Bord und legte sich in die Riemen. Rudern kann er, das muß man ihm lassen, kraftvoll, mit weit nach hinten federndem Oberkörper, und wenn er die Hölzer hochzieht, tanzen hinter dem Heck noch lange Zeit kleine trichterförmige Strudel auf dem Wasser.
„Billige Kraftmeierei", brummte Dimka mißbilligend. „Vor uns brauchst du nicht so anzugeben. Wir verstehen selber was von der Sache."
„Wer ist hier der Kapitän? Ich?"
„Wer sonst?"
„Na also. Wir waren uns einig, daß bis vierzehn Uhr gerudert wird. Es ist erst zwölf. Wenn wir uns jetzt schon auf die Vorräte stürzen, werden wir nicht weit kommen."
Die Meuterei war niedergeschlagen. Doch bald machte Petka selber schlapp. „Schön", erklärte er eine halbe Stunde später, „legen wir an. Ich bin kein Arbeitsvieh, das für euch alle schuftet."
Er steuerte in eine kleine Bucht. Als das Boot festgemacht war, krochen die Jungen auf die glatten, heißen Steine. Es war eine windgeschützte Stelle. Weiter oben dehnte sich ein Waldstück. Die Luft schien zu brodeln. Sie war zum Schneiden dick. Wie durchsichtige Säulen standen die Sonnenstrahlen im Wasser. Zwischen den Steinen huschten blitzende kleine Fische umher.
Jurka war sofort entflammt. „Wollen wir nicht angeln?" schlug er vor.
„Nein, erst essen", sagte Dimka mit einem Seufzer.
Petka nahm die Axt, bog das Gestrüpp auseinander und kroch ans Ufer.
„Petka, wohin?" rief Dimka hinterher. „Komm, wir gehen lieber in die Taiga, wenn du Feuer machen willst."
„In der Taiga ist es zu schattig. Dort fressen uns die Mücken auf. Ich hole trockene Zweige. Schäle inzwischen Kartoffeln."
Den Reisighaufen errichteten sie auf einer Felsplatte. In den Kessel wanderten die geschälten Kartoffeln, eine Handvoll Graupen, ein Stück Wurst. Das Feuer begann zu prasseln. Ruß färbte den Behälter schwarz. Jurka nahm einen Löffel und schöpfte den schmutzigen Schaum von der brodelnden Brühe.
Als die Suppe gar war, wurde der Kessel auf einen Stein gesetzt. Die Jungen hockten sich dazu. Jeder brach ein Stück Brot ab. Dann löffelten sie das gelbliche, nach Rauch riechende und sehr wohl schmeckende Etwas andächtig aus dem Behälter.
„Jetzt muß abgewaschen werden", sagte Petka nach beendeter Mahlzeit.
„Versteht sich", stimmte Dimka zu. Dann streckte er sich auf seiner Steinplatte aus.
Jurka war etwas genauer. Er meinte: „Ich bin auch dafür, aber am besten besorgen wir das immer abends. Wir kochen ja doch noch mal."
Erst jetzt spürten alle drei, wie im Körper die Muskeln schmerzten.
Das Leben eines Reisenden ist schwer. Um so angenehmer empfindet er es, wenn die Stunde kommt, wo er auf dem Rücken liegen kann, um dem hastigen Gemurmel des Wassers zu lauschen und sich bewußt zu werden, daß er sein eigener Herr ist. Über ihm spannt sich der unendliche Himmel, gewaltig und klar, und scheint zu erklingen. Es ist wie das Rauschen einer Muscheclass="underline" bald leiser, bald lauter. Endlich fallen dem Reisenden die Augen zu. Eine Hand schiebt sich darüber, um sie vor der Sonne zu schützen.