„So läßt sich's aushalten", stellte Jurka fest. „Meinetwegen müßte immer Sommer sein. Ach, ich wollte, daß ich laufen und fahren könnte, wohin ich gern möchte. Wenn ich groß bin, sehe ich mir die Welt an. Ein Jahr werde ich arbeiten, ein Jahr unterwegs sein, immer abwechselnd."
„Was du dir für Schwachheiten einbildest", ließ sich Petka vernehmen. „Wenn du erwachsen bist, ist es mit dem Reisen Essig. Ich gehe nur bis zur siebenten Klasse. Dann werde ich Fischer. Das heißt also, für mich sind das die letzten Ferien."
„Du wolltest doch auf eine Fliegerschule?"
„Ich wollte. Aber geht's danach? Meiner Mutter wird es ziemlich sauer. Außerdem habe ich noch Senka am Hals. Der ist erst sechs."
„Warten wir mal ab", meinte Dimka schläfrig, ,,ob wir nicht tatsächlich etwas finden. Vielleicht eine alte Stadt, oder wenn nicht das, wenigstens einen Stoßzahn von einem Elefanten. Dann kriegen wir eine Prämie. In diesem Fall gehe ich in die Karpaten. Dort gibt es Obst wie Sand am Meer."
„Ich würde auch nicht hierbleiben", murmelte Petka, „aber mit meinen Leuten hätte ich es natürlich schwerer. Ach, Kinder, ist das Leben langweilig in Ust-Kamensk, stimmt's? Woanders sind die Menschen besser. Wer in der Literatur ein bißchen bewandert ist, weiß, wie schön es auf der Welt sein kann. Niemand kommt auf den Gedanken, über uns ein Buch zu schreiben. Das wäre ja auch — überlegt maclass="underline" über unser Nest und unser Leben."
„Es dürfte schwerfallen", bestätigte Jurka.
„Das will ich meinen. Ach", fuhr Petka fort, „wir wohnen eben am Ende der Welt, zwar in einer sogenannten Stadt, aber Industrie gibt's bei uns nicht. Bloß Fische und Holz. Einmal in der Woche kommt ein Dampfer. Natürlich auch nur im Sommer. Und der Winter dauert ein halbes Jahr. Sag mal, Dimka, wo liegen eigentlich deine Karpaten?"
Dimka blieb ihm die Antwort schuldig. Das war kein Wunder. Er schlief schon.
Petka fand keine Ruhe. Vom vielen Reden war er sonst kein Freund, der draufgängerische und wahrheitsliebende „Kapitän". An diesem Nachmittag aber empfand er besonders deutlich, wie vergänglich der Sommer und diese Stille waren. Ein Jahr noch, dann hatte er die siebente Klasse beendet. Dann würde der „Ernst des Lebens" beginnen. Mit den schönen Ferien war es ein für allemal vorbei.
Petka hatte beizeiten gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen. „In der Fliegerschule würden sie mich nicht nehmen", sann er. „Ich bin hundertprozentig gesund, das stimmt. Aber man muß die zehnte Klasse beendet haben. Oder ob man woanders bloß den Abschluß der siebenten braucht? Jurka, hörst du?"
Doch Jurka war gleichfalls eingeschlafen. Er lag, eine Wange auf den heißen Fels gepreßt, mit schweißfeuchter Stirn neben Dimka.
Petka stand auf, ergriff die Schöpfkelle und schaufelte das Wasser aus dem Boot.
Das Mittagsschläfchen erstreckte sich auf anderthalb Stunden. Als die Freunde erwachten, hockte Petka auf einem Stein im Fluß. Neben ihm zappelten die Fische, die er inzwischen gefangen hatte.
„Sie beißen wohl an?"
„Und wie! Dreizehn habe ich schon. Zum Abendbrot gibt's Fischsuppe. Putzen müßt ihr die Biester selber."
„Typisch", empörte sich Dimka. „Er angelt und hat sein Vergnügen. Die Arbeit machen wir. Fische fangen ist kein Kunststück. Das kann jeder."
Petka zog die Angel ein.
„Zeit für die Rückfahrt."
„Haben wir denn schon genug?"
„Alle holst du sowieso nicht raus", erwiderte Petka gesetzt. „Gegen Abend müssen wir zu Hause sein. Sonst lassen sie uns nicht mehr fort. Schluß für heute. Abfahrt!"
Wieder schaukelte auf dem Fluß das Boot, das von fern aussah wie ein Stück Apfelsinenschale.
Es war schon kurz vor sechs, als hinter einer Biegung die von einem Steingürtel umgebene Insel auftauchte. Sie lag mitten im Fluß. An ihrer Spitze ragte eine hohe Klippe aus dem Wasser. Sie war mit gradstämmigen Kiefern bewachsen. Die Jungen steuerten an den Steinen vorbei, stiegen aus und kletterten auf den steil abfallenden Felsen.
Unten schlängelte sich dunkel die Tunguska heran.
Zwischen Festland und Insel sprühte die Sonne goldene Funken hinein. Bald würde an dieser Stelle ein breites, feuriges Band aufleuchten.
„Unsere Insel!" rief Jurka aus. „Wir haben sie entdeckt. Wollen wir sie nicht Azoris nennen?"
Der „Kapitän" erteilte folgende Anweisung: „Hier wird das Zelt aufgeschlagen. Wir müssen uns beeilen. Es ist schon spät. Morgen kommen wir wieder. An unsern Sachen wird sich niemand vergreifen."
Die Jungen stiegen nach unten. Sie ruderten hinüber ans Ufer. Dimka blieb beim Boot. Petka und Jurka kletterten auf einen Hügel. Sie wollten frisches Tannengrün holen. Das eignete sich gut als Unterlage für das Zelt. Auf der Insel gab es nur Kiefern.
Die beiden Freunde waren ein Stück über die Kuppe des Hügels gelaufen, als sie ein Mädchen entdeckten. Die Kleine saß unten am Wasser und hatte die Beine unters Kinn gezogen. Weil sie sich nicht bewegte, dachten die Jungen zunächst, es wäre ein Stein. Petka war der erste, der die lose über den Schultern hängende Jacke bemerkte und den dicken, mit einem grünen Band umwickelten Zopf.
„Guck mal, wer dort sitzt!" sagte er verwundert. „Das ist doch die, die mit dem Dampfer gekommen ist. Weißt du, die Kuh. Was will sie hier?"
Tatsächlich war es mehr als sonderbar, so fern von der Stadt auf einen Menschen zu stoßen, der weder in einem Boot saß noch ein Gewehr über der Schulter trug, sondern einfach am Ufer kauerte und ins Wasser starrte.
„Sie hat uns noch nicht gesehen", flüsterte Petka. „Komm, wir bringen ihr das Gruseln bei."
„Gut. Aber wie?"
Petka blickte sich um. Am Rande des Hanges lag ein Baumstamm, den das Hochwasser angeschwemmt hatte.
„Siehst du, den lassen wir auf sie los."
„Aber wenn sie was abkriegt?"
„Unsinn. Blöd ist sie ja nun auch nicht. So einen Brocken übersieht keiner. Es sind mindestens fünfzig Meter. Bis das Ding unten ist, vergeht eine Weile. Außerdem können wir schreien."
Ein Lächeln stahl sich über Jurkas Gesicht. Die Sache war harmlos, und es schadete nichts, wenn dieses eingebildete Mädchen mal einen kleinen Schreck bekam.
Die beiden packten den Baumstamm an, stemmten sich mit aller Kraft dagegen und brachten ihn in Bewegung. Er rollte nach unten, langsam zuerst, mit ungleichmäßigen Sprüngen von einem Ende auf das andere holpernd, dann schneller. Seine federnden Wurzeln zappelten in der Luft wie die Beine einer riesigen Spinne.
„He, du, schlaf nicht!" rief Petka.
Mit einem Sprung war das Mädchen auf den Beinen. Unaufhaltsam rollte der Baum auf sie zu. Losgerissene Erdbrocken und kleine Steine kollerten hinterher. „Paß auf!" schrie Petka aus Leibeskräften, schon gar nicht mehr fröhlich, eher entsetzt.
Wie zur Salzsäule erstarrt stand das Mädchen am Fuße des Hangs. Erst als der Baumstamm in bedenklicher Nähe vorübersauste und gleich darauf geräuschvoll ins Wasser schlug, sprang sie ungeschickt zur Seite.
„Ist die blöde!" heulte Petka mit einem Unterton von Entzücken. „He, du", grölte er, „du schläfst wohl mit offenen Augen?"
„Los", hauchte Jurka.
„Los!" Mit großen Sätzen flog Petka den Hang hinab.
Jurka folgte in erheblichem Abstand. Er hatte in die entgegengesetzte Richtung laufen wollen.
„Sag mal, du bist wohl lebensmüde?" schimpfte Petka, als er vor dem Mädchen stand. „Siehst die Lawine kommen und rührst dich nicht vom Fleck. Uns standen die Haare zu Berge."
Jetzt schlenderte auch Dimka herbei. Der Lärm hatte ihn angelockt.
Das Mädchen schwieg. Wie die mich anstiert, dachte Petka, kaltschnäuzig und frech — abgebrüht!
„Wo kommt ihr her?" fragte sie endlich. „Doch nicht aus dem Lager?"
„Aus was für einem Lager?"
„Nein, ihr seid nicht von uns. Ich kenne euch nicht."