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Sie stand mit dem Rücken zum Fluß. Die Sonne vergoldete ihr Haar und breitete einen lichten Schleier darüber. Auf dem Wasser schaukelte der Baumstamm. Die Strömung riß ihn hin und her. Seine Wurzeln glichen jetzt noch mehr einer riesigen strampelnden Spinne.

Die Jungen umringten das Mädchen und wußten nicht, was sie sagen sollten. Soviel Kaltblütigkeit war ihnen unverständlich. Wenn die „Kuh" wenigstens kreischen oder schimpfen würde. Auf alles wären sie gefaßt gewesen, nur nicht auf diese sonderbare Ruhe.

Das Mädchen grübelte. „Doch", sagte sie nach einer Weile an Petka gewandt, „Dich kenne ich. Wir haben uns schon einmal getroffen, gleich nach meiner Ankunft. Aber was ist da eigentlich runtergekommen, ein Stein?"

„Hast du es denn nicht gesehen?" „Nein. Ich bin blind."

Nie zuvor hatte Dimka seine Freunde so bestürzt gesehen.

„Richtig blind?" fragte Jurka dumm.

Das Mädchen nickte. Petka, der sich stets brüstete, in keiner Lebenslage die Farbe zu wechseln, errötete bis an die Haarwurzeln. Das Blut stieg ihm so heftig zu Kopf, daß es aussah, als wollten die Wangen platzen. Jurka erging es nicht besser. Nur Dimka, der noch nicht wußte, woran er war, verspürte lediglich Unbehagen.

„Also, gehen wir." Petka scharrte schwerfällig auf der Erde. „Gehen wir?" wiederholte er unsicher. Fast klang es, als bäte er das Mädchen um Erlaubnis.

„Wir müssen nach Hause. Also, auf Wiedersehen."

Die Jungen gingen auf ihr Boot zu, eilig, mit großen Schritten, ohne sich umzusehen. Ihr Aufbruch glich einer Flucht. Nach einigen Schritten blieb Petka stehen.

„Wie heißt du?" rief er zurück.

„Lena. Kommt ihr wieder?"

„Morgen", erwiderte Petka in bestimmtem Ton, „spätestens übermorgen. Schlaf gut."

Er hatte ihr eine gute Nacht gewünscht, obwohl die Sonne noch über dem Horizont stand und es ganz hell war.

„Komisch." Das war alles, was Dimka sagen konnte, als sie ins Boot kletterten. Er fühlte, daß er etwas hinzufügen mußte, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein.

Das apfelsinenfarbene Boot stieß vom Ufer ab. Es schoß durch die feurig glühenden Fluten, der untergehenden Sonne entgegen. 

VIII  Lena

Die Insel Azoris beherbergte nun ein Zelt. Die drei „Forscher" hatten es am Fuße der Klippe aufgeschlagen. Auf der Sonnenseite lagen leuchtende Flecke. Dort sah das Leinen wie ein Leopardenfell aus. 

Der Rettungsring mit der Aufschrift ,,Sach..." hing an einem Ast. Über der Feuerstelle — wie konnte es anders sein — schaukelte ein Kessel. Tropfen einer bräunlichen Brühe spritzten ins Feuer.

Ein Reisender unterscheidet sich von den übrigen Menschen dadurch, daß er unbekannte Gebiete durchforscht. Hinzu kommt, daß er immer hungrig ist. Reisende essen sehr viel. Bisweilen stirbt auch mal einer vor Hunger, das jedoch nur selten und höchstens in der Wüste. Nie in der Taiga. Hier wimmelt es in den Flüssen von Fischen. Die gehen auf Würmer, Fliegen, Brot, verdorbenes Fleisch. Auch strolchen zutrauliche Elche herum. Auf den Zedern hocken Auerhähne. Wie könnte da jemand verhungern.

Zu Hause speist ein Reisender von sauberen Tellern, mäkelt, fischt jedes Stückchen Zwiebel aus der Suppe, dreht Brotkugeln. In der Taiga verbrennt er sich beim Essen die Zunge. Doch was tut's? Dieses Gemisch von zerkochten Fischgräten, Ruß und angebrannten Graupen dünkt ihn ein ungewöhnlich schmackhaftes Gericht. Das Brot ist mit Kiefernnadeln gespickt. In der Suppe schwimmen tote Ameisen. Als Tischtuch dient ein Sack. Zwischen den Zähnen knirscht der Sand. Aber es schmeckt herrlich.

Welche Lust, ein Reisender zu sein! Die Fischsuppe riecht nach Rauch, der Rauch nach Fischsuppe. Ein zerlöchertes Zelt mit Tannengrün als Fußbodenbelag ist sein Haus. Da mag es regnen, bis alles im Wasser fortzuschwimmen droht — wenn der Reisende das Klopfen auf der Leinwand hört, schätzt er sich glücklich, ein Dach über dem Kopf zu haben. Das ist ja auch nicht derselbe Regen, der auf ungepflasterte Straßen trommelt und die Wege in Schlammbäder verwandelt. Genauso wie das Flußwasser mit den grünen Fasern darin etwas anderes ist als das, was zu Hause aus der Leitung kommt. Mit hohlen Händen geschöpft und geräuschvoll geschlürft, schmeckt es köstlich.

Und eine gekochte Zwiebel in der Suppe ist keine Zwiebel mehr.

Zum erstenmal seit ihrem Bestehen hallte die Insel Azoris von Axtschlägen wider. Da wurden Zweige abgehauen, Pfähle gespitzt. Petka schleppte einen Armvoll Tannenreisig heran. Jeder packte zu. Sogar Dimka, der kein großer Freund vom Arbeiten war, mühte sich redlich und schleifte als Feuerholz zwei dürre Bäumchen über den Boden.

Die Insel hatten sie inzwischen nach allen Seiten durchstreift, waren aber noch nirgends auf einen Mammutzahn oder einen Bronzeschild gestoßen. Vielleicht lagen die Ruinen der alten Städte drüben hinter den Hügeln, die das Ufer säumten?

Jurka stellte sich vor, wie es wäre, wenn er plötzlich eine rissige, grasüberwucherte Steintreppe fände. Die Stufen würden ihn in die Tiefe führen. Auf eisenbeschlagene Truhen, auf ungeordnete Waffenstapel fällt geheimnisvolles Licht. Er, Jurka, aber schreitet weiter. Wozu braucht er diese Schätze? In einem fernen Winkel der Höhle kauert auf marmornem Sockel ein Götze aus purem Gold. Der erinnert den Eindringling an einen alten Inder. Jurka berührt ihn mit der Hand. Da gerät der Götze in Bewegung. Zwei Steinplatten schieben sich auseinander. Eine zweite Treppe wird sichtbar. Alles vollzieht sich völlig geräuschlos. Die Stufen führen Jurka in die Tiefe. Dunkelheit umfängt ihn. Und da... 

„Was meinst du, ob sie kommt?" Jurka blickte verständnislos zu Petka hinüber.

„Wer?"

„Na sie, Lena."

 „Wie soll ich das wissen? Warum bist du so neugierig?"

„Was heißt neugierig. Mich interessiert, was sie hier treibt."

„Aber warum?" wollte Jurka wissen. „Sie ist doch blind."

„Blind." Petka warf dem Freund einen verächtlichen Blick zu. „Bist du ein Esel. Um ein Haar hätten wir sie umgebracht."

„Lauf doch zu ihr", entgegnete Jurka wütend. „Du bist ja hier der Kapitän. Nimm das Boot, bitte sehr."

„Das mache ich auch."

Petka ergriff die Ruder und ging ans Wasser. Lange schaute er zurück, machte sich an den Gabeln zu schaffen. Er wollte nicht allein fahren. Was sollte er zu ihr sagen? Es war so ein dicker Baumstamm gewesen. Lena hatte es sicher nicht vergessen. Noch einmal sah Petka nach oben. Jurka drehte sich um und pfiff „Vaterland, kein Feind soll dich gefährden..." Da stieß Petka entschlossen das Boot ins Wasser und sprang hinein.

Er ruderte ans Ufer. Ein schmaler Pfad führte in die Taiga. Auf dem feuchten Boden hatten kleine Absätze deutliche Spuren hinterlassen. Petka lief etwa hundert Meter. Dann erblickte er Lena und blieb stehen. Sie schritt schnell aus — offenbar war ihr der Weg wohlvertraut —, stutzte aber plötzlich, hob den Kopf und lauschte. Auch Petka erstarrte. Er hörte heftiges Fauchen. Sekunden vergingen, ehe er begriff, daß dieses Geräusch von seinem eigenen Atem herrührte.

„Wer ist dort?" fragte Lena.

Petka zögerte mit der Antwort. Nach einer Weile sagte er: „Ich bin es. Erinnerst du dich, vorgestern haben wir zusammen gesprochen?"

„Seid ihr aus Ust-Kamensk?"

„Ja."

„Was macht ihr hier?"

„Wir, wir suchen was. Und du?"

„Wir suchen auch was. Erdöl. Ich bin aus dem Lager." Lena trat näher.

Petka musterte neugierig ihr Gesicht. Sie hatte graue Augen. Die sahen überhaupt nicht blind aus, sondern waren groß und schön, nur daß sie ein wenig an ihm vorbeischauten.

„Erdöl? Nein, wir suchen was anderes. Komm doch mit zu uns", schlug er, für sie unerwartet, vor.

„Ist es weit?"