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„Bis zu der Insel dort drüben, siehst du — das heißt, ich meine, es ist ganz nah", verbesserte sich Petka stotternd. „Vielleicht dreihundert Meter."

„Gut. Ich fahre mit. Aber wir bleiben nicht lange? Mich suchen sie immer gleich."

Petka ging ans Ufer. Mehrmals drehte er sich um. Das Mädchen kam hinterher. Wiederum setzte ihn Lenas Ruhe in Erstaunen. Sie trat sicher auf, als gäbe es keine herabhängenden Zweige, als wäre dort vorn nicht ein steiler Hang, wo man ausgleiten konnte. Petka hatte Lena sogar in Verdacht, daß sie gar nicht blind war, sondern ihn narrte.

„Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen", beruhigte sie ihn, als er auf sie wartete. „Ich kenne den Weg gut. Gleich kommt ein Zweig. Daran halte ich mich immer fest, wenn es zum Fluß runtergeht."

„Dort steht eine Kiefer. Es ist kein Zweig, sondern eine Wurzel", erklärte Petka. „Sie wächst aus der Erde."

„Und ich dachte, es wäre ein Zweig."

Auf der Insel wurden sie von Jurka und Dimka mit neugierigen Blicken empfangen. Petka stand unschlüssig neben dem Boot. Ob er dem Mädchen die Hand reichen sollte? Er entschied sich für ein Ruder. Das war besser. Lena stieg hastig aus, und sie gingen beide zum Zelt.

 „Das sind Dimka und Jurka", stellte Petka vor, indem er in die Richtung zeigte, wo seine Freunde standen. Dimka hob fassungslos die Schultern. Petka drohte mit der Faust.

„Was treibt ihr hier bloß?" wunderte sich Lena. Jetzt schnitt auch Jurka eine schreckliche Grimasse. Er schüttelte den Kopf und starrte Petka an: Vergiß nicht, daß es ein Geheimnis ist!

„Wir wollten nur eine kleine Reise machen."

 Lena lachte. „Nur eine Reise? Gibt es das? Sergej Michailowitsch, Tonja und die anderen reisen auch, aber sie suchen Erdöl. Ihr sucht gar nichts?"

Sie ist blind und lacht noch, ging es Jurka durch den Kopf.

„Wer sucht Erdöl?" fragte er, um sie von ihrer Frage abzulenken. „Was für eine Tonja?"

„Aus unserm Lager. Dort arbeitet eine Expedition.

Mein Vater ist auch dabei. Aber nicht für lange. Im Herbst fahren wir nach Odessa zu Professor Filatow.

Wenn es mir besser geht, kommen wir wieder."

„Bist du krank?" wunderte sich Dimka.

 „Ich bin blind. Professor Filatow hat schon vielen Menschen das Augenlicht geschenkt."

Von ihrer Blindheit sprach Lena wie von einer leicht zu heilenden Krankheit. Dimka schüttelte den Kopf, behielt aber seine Zweifel für sich.

„Der hat noch keinen entlassen, der nicht geheilt war", fuhr das Mädchen fort. „Aus dem ganzen Land kommen sie zu ihm."

„Toll", sagte Jurka. In Wahrheit dachte er: Wie kann ein einziger Professor so viele Blinde heilen? Das reden sie ihr nur ein.

Lena jedoch vertraute diesem Professor Filatow offenbar vollkommen. Sie sprach natürlich und lächelte ungezwungen, nicht wie jemand, der sich unglücklich fühlt. Bald hörten die Jungen auf, ihr Gesicht zu mustern. Das leichte Unbehagen, das sie bisher empfunden hatten, war gewichen. Als der Kessel vom Feuer kam, wurde Lena eingeladen. Das Mädchen lehnte nicht ab, sondern sagte nur: „Ich habe kein Besteck bei mir."

Schon schlugen zwei Aluminiumlöffel vor ihrem Gesicht zusammen. Einen Augenblick später klapperte schüchtern ein dritter dagegen: der von Dimka, und Lena entschied sich für den letzten.

„So läßt sich's aushalten", stellte Jurka mit einem Blick in den leerer werdenden Kessel fest. „Schade, daß wir immer nur für einen Tag Verpflegung mitbekommen. Wenn sie uns die doppelte und dreifache Menge gäben, könnten wir ein Stückchen weiter fahren und durch die Taiga wandern. Wenigstens die Ufer müßten wir uns mal näher ansehn, besonders das linke, das ist schön hoch, von oben sieht man alles.'"

„Das haben vor uns schon andere besorgt", meinte Dimka trocken. „Erst letztes Jahr wurde dort was ausgemessen und ein Turm gebaut."

„Hier gibt es keine Türme", widersprach Jurka.

„Freilich", ließ sich Lena vernehmen, „das ist ein geodätisches Zeichen. Sergej Michailowitsch hat eine Karte, dort ist es vermerkt, hat er gesagt."

„Kommt mit auf die Klippe", schlug Petka vor. „Wir suchen uns eine Reiseroute aus."

Dimka und Jurka blickten Lena an. Ob man sie mitnahm oder besser unten ließ? Der Felsen war steil. Wenn es das Unglück wollte, passierte etwas.

Lena legte den Löffel ins Gras. Nichts hätte sie den Jungen abgeschlagen, sie wäre mit ihnen durch die Taiga gelaufen oder durch den Fluß geschwommen. Schon lange war sie ohne richtige Freunde. Die gleichaltrigen Kinder begegneten ihr stets mit Rücksicht. Niemand neckte sie oder hatte Streit mit ihr. Gerade das war für sie die schlimmste Kränkung. Sie fühlte sich zurückgesetzt, ausgestoßen.

Lena spürte, daß die Jungen sie jetzt anblickten. Sie ahnte, was in ihnen vorging.

„Fahrt ihr mich zurück?" fragte sie leise.

Daß das Mädchen haargenau ihre Gedanken erraten hatte, machte Petka und seine Freunde unsicher.

„Nein. Warum? Komm doch mit", ließ sich Jurka mit lauter Stimme vernehmen.

„Dieser niedliche Felsen, das ist ein Klacks für dich", meinte Dimka.

„Wir werden dir schon helfen", versprach Petka.

Lena wandte zwar noch ein: „Ich bin euch nur im Weg", aber es klang schon recht fröhlich.

Petka explodierte. „Hab dich nicht so. Du bist kein kleines Kind mehr." Klügere Worte hätten sich schwerlich finden lassen, obwohl sie ohne Überlegung hervorgesprudelt waren.

Der „Kapitän" hatte eine Art, schnoddrig zu reden. Vor keinem Menschen kannte er Hemmungen. Nun wurden auch Petkas Freunde kühner. Sie ergriffen das Mädchen bei den Armen, der eine links, der andere rechts, und zogen sie die Klippe hinauf. Mehrmals stieß Lena gegen einen Stein, weü sie nicht einfach darüberspringen konnte wie ihre Begleiter. Doch das trübte ihre Freude nicht. Keine Furche zeigte sich auf ihrer Stirn. Im Gegenteil, sie lachte.

„Dort auf dem Hügel steht ein Turm", rief Dimka triumphierend. „Ich habe ja gleich gesagt, das linke Ufer ist restlos erforscht."

Sie setzten sich auf die Felskuppe.

Zum Fluß hin fiel der Felsen senkrecht ab. Am Rande klammerte sich eine krumme Fichte mit ihren Wurzeln verzweifelt ans Gestein.

„Ist es hoch?" wollte Lena wissen.

Dimka legte sich auf den Bauch. Sein Kopf hing über dem Abgrund.

„Nicht besonders. Höchstens..."

„Spring runter", forderte ihn Petka auf, „dann weißt du's genau."

„Das mußt du mir erst vormachen. Andere aufhetzen kann jeder."

„Denkst du, ich würde mich nicht trauen? Wenn es sein müßte."

„Und wenn es nicht sein müßte?" fragte Dimka bissig.

Petka stand dicht neben Lena. „Gut", sagte er, „ich springe."

„Sieh zu, daß du keinen Bauchklatscher machst", empfahl Dimka.

Hätte Lena nicht dabeigesessen, wäre daraus wahrscheinlich nichts geworden. Sie hätten gestritten, wer den Sprung in die Tiefe wagen würde und wer nicht, und wären alle drei wieder hinabgestiegen. Nun saß aber Lena dabei.

Schweigend zog sich Petka aus, trat an den Rand der Klippe, stand dort für einige Augenblicke gleich einer Bronzestatue vor dem Abgrund, schön anzusehen, fast wie ein junger Atlantisbürger.

Jetzt begriff Dimka, daß es kein Spaß war. Doch er schwieg. Dafür erhob Jurka warnend seine Stimme:

„Petka, unten sind vielleicht Steine."

„Zähle bis drei."

„Eins — zwei — drei."

Petka stand wie angewurzelt an der Stelle, wo die Klippe steil zum Fluß abfiel.

„Nicht so schnell", schimpfte er, „ich muß doch erst einen Fleck aussuchen, wo ich hinspringen kann."

Lena lächelte nicht mehr. Sie lauschte auf das Ge-plätscher der Wellen, das aus ziemlicher Entfernung heraufdrang. Es waren mindestens zwölf Meter.