„Eins — zwei — zwei einhalb — zwei dreiviertel..."
Kraftvoll stieß sich Petka ab und sauste mit den Beinen voran durch die Luft.
Er mußte sich viel Schwung geben, um nicht auf den Steinen zu landen, die am Fuße des Felsens im Wasser lagen. Lena lauschte mit vorgestrecktem Hals. Endlich hörte sie den Aufschlag. Die Jungen sahen, wie Petka in einem Schwall von Schaum und Blasen verschwand. Dann tauchte, wohl auf dem Grund des Flusses, ein heller Felck auf. Als sich das Wasser beruhigte, erkannten sie ihren Freund, der wie ein Frosch davonschwamm.
Nur Lena sah es nicht. „Wo ist er?" fragte sie.
„Alles in Ordnung", erwiderte Jurka. „Gleich kommt er hoch."
In zwanzig Meter Entfernung tauchte Petka auf. Er plantschte im Wasser, um den vor ihm treibenden Schaum zu zerteilen, steuerte dann auf die Insel zu. Jurka und Dimka nahmen seine Sachen und rannten hinunter. Petka schwamm mit der Strömung. Bald stieg er an Land — einen Augenblick eher, als seine Freunde zur Stelle waren.
„Brrr, ist das Wasser kalt", rief er schon von weitem. „Wie im Winter."
Lena, die sie in der Aufregung vergessen hatten, tastete sich nach unten.
„Ihr habt sie allein gelassen?" Petka war empört. „Seid ihr nicht bei Troste?" Er streifte hastig die Kleidung über seine nasse Badehose. „Warte", rief er Lena zu, „ich komme schon."
Petka lief ihr entgegen. Sie gab ihm die Hand und sagte etwas. Auch er sprach. Nachdem sie eine Weile miteinander geredet hatten, gingen sie weiter, er an ihrer Seite.
„Ein Land sucht ihr?" rief Lena aus. „Das habe ich natürlich nicht gewußt. Ich dachte, daß ihr nur so... Wo liegt denn dieses Land?"
Jurka, der dies hörte, sah Petka tadelnd an, sagte aber nichts.
„Na ja, ich habe es ihr erzählt", brummte Petka, als er Jurkas Blick auffing. „Ist doch nichts dabei. Aber sie weiß noch nicht alles. Ich werde ihr vorlesen. Oder habt ihr was dagegen? Jurka, gib das Heft her."
„Das könnte dir passen. Nein, nein, wenn einer liest, dann bin ich es. Wem gehört denn das Heft? Dir vielleicht?"
„Es ist unser gemeinsames Eigentum. Komm, gib her!"
„Hast du dir gedacht", entgegnete Jurka störrisch und tippte sich an die Stirn. „Ich habe es gefunden, ich lese."
Jurka zeigte sich eigensinnig und kampfeslustig. Er glich einer Bruthenne. So kannten sie ihn nicht. Petka begriff, daß er in diesem Fall nichts erreichen würde, und gab nach.
„Lena", erklärte Jurka, indem er das Heft aus der Tasche zog, „hiervon weiß noch niemand etwas. Dir werden wir alles erzählen. Nur sage es keinem weiter. Hörst du!"
„Sie braucht gar nicht viel zu sagen", wandte Dimka ein. „Zwei Wörter ihrer Freundin ins .Ohr — schon weiß es die ganze Welt."
„Ich habe keine Freundin", erwiderte Lena schlicht.
Da verstand Dimka, daß er mit Lena nicht umspringen durfte wie mit einem anderen Mädchen.
„Lena", fuhr Jurka fort, „noch haben wir nichts gefunden. Wir wissen nicht, wo wir das Land suchen sollen. Vielleicht liegt es auch gar nicht in unserer Gegend. Es ist am besten, wenn ich jetzt anfange."
Jurka schlug das Heft auf und las vor. Er las sehr ausdrucksvoll, wie ein Sprecher im Radio. Die Atlantisbürger begannen zu leben, schritten ihren Weg zu Blüte und Untergang. Petka betrachtete aufmerksam Lenas Gesicht. Sooft Jurka stockte, runzelte sie die Stirn. Der ,,Kapitän" rutschte hin und her. Ich würde viel besser lesen, dachte er. Als Jurka bei der Stelle anlangte, wo der Sklave vor dem Abgrund zurückschauderte, zuckte Lena zusammen, als stände sie selber am Rande eines Felsens.
Schließlich verlor Petka die Selbstbeherrschung. Er war rasend vor Neid, sprang hoch, hob einen Stein auf und schleuderte ihn aus Leibeskräften gegen den Stamm einer Kiefer.
„Was ist denn in dich gefahren?" knurrte Jurka und klappte das Heft zu.
„Nichts. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten."
„Palmen", sagte Lena, „wie sehen die aus?"
„Ähnlich wie Kiefern", erklärte Jurka, „nur haben sie Blätter auf dem Wipfel, und oben hausen Affen."
„Wie eine Kiefer aussieht, weiß ich nicht. Wo wir früher wohnten, gab es viel Fichten. Wenn ich mir einen Baum vorstelle, ist es immer eine Fichte. Sie hat rote und grüne Nadeln."
„Grüne im Sommer", sagte Petka, „braune im Herbst. Mußt du schon nach Hause?"
„Ich muß nicht. Aber sie sind bestimmt schon unruhig. Fahrt ihr mich rüber?"
„Mach ich", entgegnete Jurka eilfertig.
„Hast du dir gedacht", fuhr Petka auf. Er tippte sich an die Stirn.
„Komm, Lena."
,,Du bist vorhin schon gewesen. Ich möchte auch mal rudern."
„Schwachheiten." Petka schüttelte den Kopf.
Diesmal gab Jurka nach. Schließlich war nicht er, sondern Petka vom Felsen gesprungen. Das Boot durchschnitt den Fluß. Petka setzte Lena an Land.
„Besucht uns im Lager", sagte das Mädchen beim Abschied. Es war eine Einladung. „Wenn ihr diesen Pfad nehmt, könnt ihr uns nicht verfehlen. Er führt direkt ins Lager. Kommt ihr?"
„Ja", erwiderte Petka und stieß vom Ufer ab. Er hatte das Boot mit einigen Ruderschlägen auf den Fluß getrieben, als er laut hinzufügte: „Wir kommen unbedingt. Aber alle zusammen."
Lena lachte. „So hatte ich es auch gemeint. Alle, nicht nur du."
Petka hörte sie nicht mehr. Er hielt auf die Insel zu. Zischend bohrte sich der Bug in die Wellen und zerteilte sie. Wie schön war es, die Ruder in den Händen zu halten, den Widerstand des Wassers zu spüren und dabei zu fühlen, daß es immer schneller ging. Mit Schwung schoß das Boot aus dem Fluß. Es lag fast zur Hälfte auf dem Trockenen.
IX Von denen, die suchen
Noch war Atlantis unentdeckt geblieben.
Dabei mußte es ganz in der Nähe liegen. Irgendwo auf dem ehemaligen Meeresboden, wo jetzt die Taiga war. Man mußte tiefer ins Innere des Nadelwaldgürtels vordringen, dann fand man vielleicht, was zu finden allen anderen bisher nicht beschieden war, weil sie nicht gründlich genug gesucht hatten oder zu bequem waren oder nicht zu träumen verstanden. Auf eine zweitägige Reise verzichteten die drei Freunde schweren Herzens. Ihre Eltern hatten angedroht, die Bootsfahrten überhaupt zu unterbinden, wenn die Ausreißer am Abend nicht wieder zu Hause wären. Es gab lange Diskussionen. Die Eltern blieben unerbittlich. Sie waren wie jene, die Atlantis nicht gefunden hatten, weil sie nicht träumen konnten.
Wieder näherten sich die Jungen der Insel, auf der ihr zerlöchertes Zelt stand. Diesmal nahmen sie Kurs aufs Ufer. Sie verließen ihr Boot an der Stelle, wo Tage zuvor Lena gesessen hatte.
Der Pfad, auf dem die Absätze von Kinderschuhen zahlreiche Spuren hinterlassen hatten, führte auf eine Lichtung. Vorsichtig bogen die Jungen das Gebüsch auseinander.
Am Ende der Wiese sahen sie zwei Zelte, daneben ein Holzhäuschen auf Kufen mit davorgespanntem Traktor. Die Teilnehmer der Expedition schienen ausgeflogen zu sein. Der Anblick des Lagers erweckte eine Vorstellung geistiger Leere, Gefühle der Trägheit und Schwere. Nur daß neben dem Häuschen ein Motor lief. Er zitterte und spuckte, als sei er empört über die Zumutung, bei dieser Hitze zu arbeiten.
Etwas später bemerkten die Jungen den Mann, der auf der Lichtung neben einem grünen Kasten lag und rauchte.
Aus einer Schneise kamen zwei Arbeiter. Sie trugen eine große Rolle, von der ein langer Draht abgespult wurde. Sie bewegten sich schweigend und unentwegt vorwärts, als ahnten sie nicht, daß hinter ihrem Rücken der Draht von der Rolle ins Gras glitt, oder als sei ihnen dies höchst gleichgültig.
Als die beiden näher kamen, sah man, daß sie sehr müde waren.
An einem in die Erde gerammten Pfahl setzten sie vorsichtig einen runden Behälter von der Größe einer Konservendose ab. Dann wanderten sie weiter.