„Da haben wir die Bescherung", brummte Sergej Michailowitsch kleinlaut. „Ich bin täppischer als ein Köter. So gedankenlos daherzureden." Er eilte ihr nach.
Damit endete der Streit über Berufe und ihre Romantik, die oftmals — wer weiß warum — hinter den sieben Bergen gesucht wird.
Beim Abschied sagte Sergej Michailowitsch zu Jurka: ,,Da sind wir uns nun tüchtig in die Haare geraten, aber viel Sinn hat es nicht gehabt. Welcher Beruf am interessantesten ist, wissen wir immer noch nicht. Stimmt's Jurka?"
Jurka blickte Sergej Michailowitsch an. Er seufzte. „Wissen Sie, Sergej Michailowitsch, seien Sie mir bitte nicht böse, aber Sie sind ein schlauer Fuchs." Sprach's und lief seinen Freunden nach.
X Eine Unterweisung im Ringen
In Ust-Kamensk gab es zwei Überraschungen. Die eine im Haus der Issajewa. Als Petkas Mutter von der Arbeit heimkehrte und durch einen Türspalt blinzelte, sah sie ihren Großen mit Hose und Matrosenhemd bekleidet am Tisch sitzen. Neben ihm kauerte stirnrunzelnd Senka. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt, prustete und bewegte ungeduldig die Ellbogen.
„Ist ja gar nicht richtig", zeterte er, „Mama näht ganz anders."
Für diese Bemerkung bekam der Kleine vom Großen eins hinter die Ohren. Der Kleine zuckte zusammen, steckte den Klaps jedoch widerspruchslos ein. Brüllen hätte wenig Sinn gehabt. Es war niemand in der Nähe, der ihn bemitleiden konnte.
Sie waren beide so emsig bei der Sache, daß sie nicht merkten, wie die Mutter eintrat. Als erster entdeckte Senka sie. Er machte ein freudiges Gesicht. Eine Sekunde später fiel ihm ein, daß Petka ihn geschlagen hatte. Da begann er zu schluchzen.
Mutter kam näher, spähte dem Großen über die Schulter und schrie überrascht auf. Petka bemühte sich, einen Knopf an sein Oberhemd zu nähen.
Mutter hätte daran nichts Besonderes gefunden, wenn es nicht gerade ihr Großer gewesen wäre, der sich da mit Zwirn und Nadel versuchte. Aber ausgerechnet Petka, den man nicht anders kannte als mit zerrissenem Kragen, dessen Hemd des Abends verriet, ob am Morgen in Ust-Kamensk jemand den Gartenzaun gestrichen hatte, der seit seiner Bekanntschaft mit den Motorenschlossern in befleckter Hose umherlief, der zu den Fischern ging und auf dem Hemd Hunderte von Schuppen heimbrachte. All diese kleinen Liederlichkeiten hatten ihn nicht gestört. Sie waren in seinen Augen ebenso natürliche Erscheinungen gewesen wie Ölflecke auf einem Schlosseranzug. Und plötzlich sollte ihm ein abgerissener Knopf Kopfschmerzen bereiten? Da stimmte doch etwas nicht.
Nach getanem Werk nahm er ein stumpfes Messer und säbelte den Faden durch. Erst als auch dies geschehen war, schaute er zu seiner Mutter auf.
„Der war schon lange ab, aber du bist nie dazu gekommen, ihn anzunähen. Sollte ich ewig so rumlaufen?"
„Warum hast du mir nicht mal einen Ton gesagt?" entgegnete die Mutter verstört.
„Weil du nicht weißt, wo dir der Kopf steht. Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, Mutti, dann kauf mir ein neues Hemd."
„Seit wann kümmerst du dich um deine Kleidung? Na schön, ich werde dir eins nähen."
„Nicht nähen, Mutti. Das dauert zu lange. Ich brauche es unbedingt schon morgen. Kaufst du mir eins?"
„Warum hat es damit solche Eile?"
„Ich brauch es eben."
„Warte wenigstens noch drei Tage. Dann gibt es Geld."
„Ach, Mutti, du verstehst mich nicht. Ich brauche es sofort. Meinetwegen nur für morgen. Danach kannst du es wieder verkaufen."
Die Mutter schüttelte den Kopf und wunderte sich. Petka ließ nicht locker. Schließlich zog er die Mutter mit sich fort ins Geschäft.
Das zweite Ereignis fand am gleichen Tage im Haus der Alenows statt.
„Papa", wandte sich Jurka an seinen Vater, „was ist deine Meinung: Kann man einen blinden Menschen heilen?"
„Das hängt ganz von der Art der Krankheit ab. In einigen Fällen ist eine Heilung möglich, in anderen nicht."
„Wenn er aber aussieht wie ein gesunder Mensch? Sagen wir mal, er hat richtige Augen, und man merkt gar nicht, daß er blind ist?"
„Das weiß ich nicht, Jurka. Ich bin kein Arzt. Warum fragst du?"
„Weil ich später mal Augenarzt werden will." „Augenarzt?" Vater Alenow mußte lachen. „Weshalb nicht Chirurg oder Nervenarzt?"
Jurka war beleidigt. „Ich weiß nicht, was du daran lächerlich findest", sagte er gereizt. „Du kannst dir eben nicht vorstellen, wie das ist, wenn ein Mensch alles sehen möchte und nicht kann."
„Jurka, ich wette, du hast wieder ein Buch gelesen. Wie war das, wolltest du nicht viel reisen?"
„Das werde ich auch. Arzt sein und reisen. Die Kranken müssen manchmal zehn Jahre warten, bis sie zu einem Professor kommen können. Ich werde zu ihnen fahren."
„Mascha, hast du das gehört? Unser Jurka hat eine neue Leidenschaft entdeckt. Er wird Augenarzt mit Professorentitel und fährt zu seinen Patienten."
„Freilich habe ich es gehört", rief Mutter zurück.
„Meine Herren Professoren, darf ich Sie zu Tisch bitten. Gleich wird die Suppe kalt."
So war es immer. In den größten Augenblicken seines Lebens, jedesmal wenn Jurka den Wunsch verspürte, edelmütig zu sein, und merkte, daß er vor einer wichtigen, folgenschweren Entscheidung stand, wo er elterlichen Rat brauchte, wurde die Suppe kalt.
Er hatte jetzt keinen Appetit, sondern fühlte den Drang in sich, eine Heldentat zu begehen. Da kamen sie mit ihrem Essen. Eltern sind gewöhnt, den Sohn nicht für voll zu nehmen. Sie sehen mit gutmütigem Lächeln auf ihn herab und wollen nicht verstehen, daß er es ernst meint. In ihren Augen ist er ein Phantast, auf dessen Gerede man nur zum Spaß eingeht. Natürlich ist das leichter, als eine vernünftige Antwort zu geben.
Vater und Mutter blickten schmunzelnd das Söhnchen an, nicht etwa herablassend, ach wo, eher zärtlich. Aber gerade deswegen sollten sie nie etwas von dem blonden Mädchen erfahren, das immer aussah, als suchte es etwas in der Ferne.
Am Abend traf Jurka seinen Freund Petka auf der Straße. Sie sprachen über dies und jenes. Ihre Geheimnisse aber behielten sie für sich, wie es richtigen Männern geziemt. Der eine verriet nichts von seinem neuen Hemd, der andere nichts von seinem Entschluß, Arzt zu werden.
Sie suchten Dimka auf, um mit ihm zu vereinbaren, am nächsten Morgen schon eher aufzubrechen. Das Haus von Dimkas Eltern stand am Rande der Stadt, dort, wo die Taiga beginnt. In dieser Gegend war es still. Auf dem Weg stand dünnes Gras. In der Mitte verrieten Autospuren, daß der Tankwagen des Flughafens hier öfter durchfuhr.
Sie fanden Dimka am Zaun sitzend, den Rücken gegen die Latten gelehnt. In der Linken hielt er eine tönerne Katze mit einem Schlitz auf der Stirn. Das war seine Sparbüchse. Mit einem leimbeschmierten Stöckchen stocherte er in dem Spalt.
„Was machst du da eigentlich?"
„Ich will mein Geld zählen. Die Münzen habe ich rausgeschüttelt, aber die Scheine kommen nicht durch. Soll ich die schöne Katze zerschlagen? Das wäre doch ein Jammer."
„Wieviel hast du denn?"
„Es werden ungefähr acht Rubel sein."
„Wir haben gar nicht gewußt, daß du so reich bist", sagte Petka. „Als wir für das Boot sammelten, hast du drei Rubel gegeben. Du bist gemein, Dimka."
„Das ist nicht wahr. Ich spare für ein Gewehr. Wenn ich genug beisammen habe, seid ihr die ersten, die schießen wollen."
„Du kannst sparen, soviel du willst, aber nicht still und heimlich. Das ist unanständig."
„Was hängst du dich in fremde Angelegenheiten!" begehrte Dimka auf. „Ist es dein Geld?"
„Einen Augenblick, Petka", platzte Jurka dazwischen. Er befürchtete mit Recht, das Gespräch könnte einen unerwünschten Ausgang nehmen. „Dimka, wir wollen zwei Tage fortbleiben."