In diesem Durcheinander kamen sich die Besucher höchst überflüssig vor. Besonders enttäuscht war Petka, der sein neues hellblaues Hemd angezogen hatte. Übrigens kümmerte sich niemand um sie. Lediglich Sergej Michailowitsch nickte ihnen aus der Ferne freundlich zu, und Tonja sagte im Vorübergehen guten Tag. Die Freunde streiften über die Lichtung, wanderten um den ehemaligen Lagerplatz, aber nirgends entdeckten sie Lena. Fragen wollten sie nicht. Die Leute waren alle zu sehr beschäftigt.
Endlich kam Tonja zu ihnen.
„Lena ist schon abgerückt, Jungs."
„Wo denn hin?"
„Auf einen anderen Lagerplatz. Dort ist auch ihr Vater."
Die Jungen glaubten, Tonja werde ihnen jetzt sagen, daß Lena auf sie gewartet und beim Abschied gebeten habe, die Gäste ja recht schön zu grüßen. Außerdem hofften sie zu hören, sie sollten doch, wenn irgend möglich, ihre kleine Freundin in der neuen Umgebung besuchen. Tonja sagte jedoch nichts von alledem. Überhaupt benahm sie sich recht merkwürdig. Sie schien verstimmt zu sein, preßte die Lippen aufeinander und blickte die Jungen an, als wäre sie ihnen böse.
Jurka hielt es nicht mehr aus. „Hat sie denn nichts bestellt?" fragte er.
„Nein." Tonja schwieg eine Weile. Dann erklärte sie: „Wißt ihr, Jungs, Lena ist furchtbar traurig. Professor Filatow ist gestorben. Wir haben es erst gestern erfahren. Er war doch ihre ganze Hoffnung. Wir wollten ihr nichts verraten, aber durch einen dummen Zufall hat sie es gehört."
Tonja machte mit den Händen eine Bewegung, die Hilflosigkeit ausdrückte, und entfernte sich. Die Jungen trafen Anstalten, ihr Boot aufzusuchen. Als sie ein paar Schritte gegangen waren, wurden sie angerufen.
„Was fällt euch ein, ohne Abschied fortzulaufen", beschwerte sich Sergej Michailowitsch. Er trat heran. „Vielleicht begegnen wir uns nicht noch einmal."
„Auf Wiedersehen", sagten sie wie aus einem Munde.
„Alles Gute, ihr Helden. Ich werde Lena erzählen, daß ihr hiergewesen seid."
Er zog die Brauen zusammen, als sei ihm plötzlich noch etwas eingefallen, und sagte: „Ihr müßt verstehen, der Professor war der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Sie ist noch nicht allzulange blind, erst anderthalb Jahre. Seitdem sparen Vater und Tochter für die weite Reise. Eine Mutter hat Lena nicht mehr, und der Vater arbeitet hier, um mehr zu verdienen. Im Herbst wollten sie fahren."
„Daraus wird nun nichts." Petka starrte finster vor sich hin.
„Sie werden trotzdem fahren. Ein Mensch ist gestorben, aber sein Werk lebt", entgegnete Sergej Michailowitsch zuversichtlich. „Da sind die Schüler, da ist die Klinik. Nur liegen die Dinge bei Lena etwas schwierig. Begreift ihr, was es heißt, die Hoffnung zu verlieren? Lena hat an den Professor geglaubt. Versteht ihr? Nicht an sein Werk, sondern an ihn persönlich. Sie wußte: In Odessa lebt ein Professor Filatow, er wird mich binnen eines Monats gesund machen. Nun gibt es diesen Professor nicht mehr. Sie kann sich gar nicht beruhigen. Wir sind schon ganz ratlos."
Die besondere Wärme, mit der Sergej Michailowitsch dieses „wir" aussprach, verriet den Jungen, daß Lenas Leid das Leid aller war. Offenbar mußte das so sein, wenn man viel umherzog und ein an Schwierigkeiten reiches Leben führte. Die Leute waren gewöhnt, den Schmerz wie das Brot miteinander zu teilen.
„Und ihr, meine Herren Reisenden, habt ihr es noch weit heute?" fragte Sergej Michailowitsch.
„Den Fluß rauf. Werden schon sehen."
„An den Stromschnellen vorbei?"
„Ja."
„Ihr denkt wohl, daß ihr dort das Gesuchte findet?"
„Lena?" fragte Petka. „Atlantis." Jurka horchte auf.
„Atlantis?"
„Mädchen können nichts für sich behalten", meinte Dimka. „Ich habe es gleich gesagt. Da sieht man, was ein Versprechen wert ist. Sie wollte es keinem erzählen."
Sergej Michailowitsch lachte. „Ich bin so gut wie keiner. Bei mir geht das zu einem Ohr rein, zum andern raus. Allerdings werdet ihr Atlantis in dieser Gegend kaum finden. Das liegt im Atlantischen Ozean, im Gebiet der Azoren. Obgleich sich die Gelehrten bis heute nicht einig sind, wo sie nun wirklich suchen sollen. Die einen vermuten es im Mittelmeer, andere im Schwarzen Meer, manche sogar im Eismeer."
„Und hier keiner?" fragte Jurka enttäuscht.
„Hier?" Sergej Michailowitsch blinzelte. Er blickte den Jungen aufmerksam an und meinte fröhlich: „Ausgeschlossen ist es nicht. Macht nur schön die Augen auf. Hauptsache, ihr verirrt euch nicht. Sonst müßt ihr nachher noch gesucht werden. Da, das schenke ich euch."
Er hielt ihnen einen Kompaß hin.
„Danke, damit sind wir versorgt."
„Mit so etwas nicht."
Es war ein Kompaß wie eine Uhr. Er hing an einem Riemen. Nein, so etwas hatten sie tatsächlich nicht aufzuweisen.
„Dann lebt wohl. Vielleicht lauft ihr mir noch einmal über den Weg. Schönen Dank für Lena."
„Wieso für Lena?"
„Wenn ihr älter seid, werdet ihr es verstehen."
Sergej Michailowitsch gab jedem von ihnen die Hand. Dann ging er davon.
Wenige Minuten später war die Kette der Arbeiter in der Taiga verschwunden. Die Stimmen klangen schwächer und verhallten schließlich. Dafür hörte man jetzt andere Geräusche: das Rauschen des hohen Grases, das Knarren der Baumstämme, fröhliches Vogelgezwitscher.
Die Gedanken der Jungen begleiteten alle, die fortgezogen waren, Wege und Pfade verschmähend, quer durch den Wald.
,,Wollen wir nicht leise hinterhergehen?" schlug Petka vor. „Vielleicht ist es gar nicht schlimm."
„Hinterhergehen?" fragte Dimka argwöhnisch.
„Na ja."
„Und Atlantis?" gab Jurka zu bedenken.
„Der braucht jetzt kein Atlantis", meinte Dimka, „der braucht nur..." Er biß sich auf die Lippen.
Petka hatte schon die Fäuste geballt. Er musterte den Freund, hart und ohne Wimper zucken, wie ein Erwachsener. Daß er nichts sagte, nur mit den Augen sprach, machte seine Drohung besonders gefährlich. Dimka ahnte, daß er in diesem Kampf haushoch unterliegen würde.
„Wir wollten zusammen Atlantis suchen", sagte er kleinlaut, „das war vereinbart." Petka machte eine scharfe Kehrtwendung und ging zum Boot.
Es wehte ein kühler Wind. Der Fluß glich einem gegen den Strich gebürsteten Teppich. Graue Wolkenfetzen segelten über den Himmel. Vorzeichen eines nahenden Unwetters. Vor den Stromschnellen nahm die Strömung zu. Die Jungen mußten sich häufiger beim Rudern ablösen. Der Bug zerteilte das Wasser. Niedrige Wellen rasten gegen die Wände des Bootes und zerschellten. Auf dem Fluß zeigten sich trichterförmige Strudel. Mitunter hatten die Jungen das Gefühl, jemand säße unter der Oberfläche, hielte zum Schabernack die Ruder fest und zöge daran.
Dann sahen sie die Stromschnellen. Davor lagen schaumgekrönte Steine. Nur in der Mitte des Flußbettes gab es eine schmale Rinne. Die aufgewühlten Wassermassen wälzten sich tosend hindurch.
Die Jungen kletterten ans Ufer. Sie waren barfuß und rutschten auf den glitschigen Steinen aus, schleppten aber unentwegt das Boot.
„Zurück ist es ein Kinderspiel", verkündete Petka. Die Tunguska tobte so laut, daß er schreien mußte. „Los, runter zur Fahrrinne!"
Jurka und Dimka wiegten bedenklich die Köpfe. Sie hatten nichts gegen Abenteuer, aber mit den Stromschnellen war nicht zu spaßen. An dieser Stelle waren schon Kutter gekentert und Menschen ertrunken. „Das Wasser ist gestiegen", schrie Petka. „Wir müssen uns beeilen."
Weiter oben hatte es geregnet. Der Fluß schien zu gären. Er trat über die Ufer. Unaufhörlich schwollen die Fluten, rissen morsche, um die Achse kreiselnde Baumstämme mit in die Ferne. Am Unterlauf stauten sich die Nebenflüsse. Auch hinter den Schnellen war die Strömung so stark, daß die Jungen noch lange treideln mußten.
Der Wind nahm zu. Vom hohen Ufer aus peitschte er das brodelnde Wasser und trieb es empor.