Die Jungen kämpften gegen den Sturm und gegen die Strömung. Endlich hatten sie genug, zogen das Boot aufs Trockene, kletterten die Böschung hoch und gingen durch die Taiga.
XII Feuer
Der Sturm heulte in der Taiga. Er tobte pausenlos, mit unverminderter Gewalt, als wäre am Ozean ein Tor aufgesprungen und das hätte einen noch nie dagewesenen Durchzug verursacht.
Schmutzige Schwaden flatterten niedrig über die Kronen der Bäume dahin. Die Kiefern, die auf der Nordseite kahl waren, winkten ihnen mit krummen Zweigen nach. Alles gehorchte dem Sturm — nur die Sonne nicht; sie glomm matt durch die Wolken und schien ein Stückchen weiter nach Norden gerückt zu sein.
Noch nie hatten sich die Jungen so lange in der Taiga aufgehalten. Es war unwegsam, alles andere als gemütlich. Nicht einmal einen Pfad gab es. Stellenweise stand der Wald so dicht, daß die alten Bäume nicht zu Boden stürzen konnten, sondern an den Ästen ihrer Nachbarn hängenblieben und in dieser Lage langsam verfaulten. Auf den Lichtungen wuchs trockenes Gras. Wenn der Sturm über die Halme strich, brachte er sie zum Klingen. Durchs Dickicht irrten blaue Schatten. Weiter entfernt wirkte die Taiga wie erstarrt. In dieser Reglosigkeit lag etwas Ewiges, Bedrückendes.
Die Jungen waren in der Nähe geboren und aufgewachsen. Sie kannten die Taiga, fürchteten sie nicht, wußten, daß sie aus Bäumen, Gras, Gestrüpp besteht, daß alles, was in ihr Nase und Ohren besitzt, vor einem Menschen die Flucht ergreift. Nur dem Geduldigen und Behutsamen zeigt sich der Wald, wie er wirklich ist. Angst verspürten die Jungen also nicht. Nie wären sie auf den Gedanken gekommen, daß ihnen etwas zustoßen könnte.
Sie wanderten nach Norden, bahnten eine Gasse durch das Gras, das sich hinter ihnen wieder schloß. Natürlich ging es nur langsam voran. Aber schweigend drangen sie unverdrossen vorwärts, bis ihnen schien, daß sie bereits lange unterwegs waren und den Fluß weit hinter sich gelassen haben mußten. In Wahrheit hatten sie zwei Kilometer zurückgelegt. Dimka stöhnte. „Nun laufen wir schon eine Ewigkeit durch die Taiga, und der Erfolg ist gleich Null."
„Du hast wohl gedacht, daß dir alles in den Schoß fällt?" fragte Petka.
„Mir knurrt der Magen." Dimka konnte einem auf die Nerven fallen. „Und die Kartoffeln haben wir im Boot gelassen. Die Graupen ebenfalls. Wenn es regnet, sind sie hin. Bin dafür, daß wir umkehren."
Sie waren alle seit langem müde und hungrig, nur hatte sich bisher niemand eine Blöße geben wollen. Als Dimka zu reden anfing, fühlten sich die beiden anderen erleichtert.
Sie waren durchaus dafür, eine Rast einzulegen, ließen sich, wo sie standen, umsinken und verharrten einige Minuten ausgestreckt, schweigend im Gras. Zum erstenmal hatte Jurka das Gefühl, mit dem Spiel gehe es bald zu Ende, obwohl er noch meinte, das Suchen müßte eine Freude sein, wenn man wenigstens von Zeit zu Zeit einen kleinen Erfolg sähe. Petka dagegen bedauerte, daß sie nicht doch nach Osten gewandert waren. Bei einem pausenlosen Marsch durch die Taiga hätten sie die Expedition vielleicht eingeholt. Er stellte sich vor, wie er zu Lena sagen würde, sie müsse unbedingt nach Odessa fahren, da Hoffen und Suchen immer noch besser seien, als untätig herumzusitzen. Dimka aber dachte an die Karpaten. Wie es hieß, gab es dort sogar im Winter Obst, soviel das Herz begehrte. Weiter wußte er nichts von dieser verlockenden Gegend, nicht einmal, wo er sie auf dem Atlas suchen sollte.
Sie lagen müde im Gras. Jeder hing seinen Gedanken nach. Auf einmal merkten alle, daß etwas nicht stimmte. Sie spitzten die Ohren. War das ein komisches Knacken und Knistern, als kribbele, als wimmele der ganze Wald.
Nachdem Petka „guckt mal!" geschrien und nach oben gezeigt hatte, sahen auch Dimka und Jurka die Eichhörnchen, die über ihnen von Ast zu Ast turnten, unzählig viele, in verschiedenen Tönungen: rostbraune, rötlich schimmernde, fuchsige mit dunklen Schwänzen, dunkelbraune mit Längsstreifen auf den Rücken. Es war, als habe der Wind diese riesige Herde hergetrieben. Gewandt, mit sicheren Sprüngen wechselten die Tiere von Baum zu Baum. Wo der Abstand sehr groß war, glitten sie spiralig den Stamm hinab, liefen ein Stück auf ebener Erde, hastig in den Bewegungen, nervös, scheinbar ziellos und doch in eine Richtung. Sie alle folgten dem gleichen Wunsch, recht bald den Fluß zu erreichen.
Eine Eichhörnchenwanderung in diesem Ausmaß hatten die Jungen noch nicht erlebt. Sie sprangen auf die Füße.
Sogleich gabelte sich der Strom der wandernden Tiere, huschte links und rechts an dem Hindernis vorbei, ohne einen Augenblick im rasenden Lauf innezuhalten.
„Sie fliehen", flüsterte Dimka. „Wovor haben sie Angst?"
„Sind das viel!" staunte Jurka.
Wenige Sekunden später brach ein Elch durchs Dickicht, schwer beladen mit seinem Geweih, lautlos. Die Jungen würdigte er keines Blickes, tat, als wären es Bäume und keine Menschen.
Petka und seine Freunde kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie waren schrecklich aufgeregt. Der Wald gab seine Geheimnisse preis. Eine unbekannte Kraft hatte sich der Tiere bemächtigt, ein Zauber, der größer sein mußte als die Furcht vor den Menschen.
„Was haben sie nur?" fragte Petka. Es war die letzte Frage. Sie spürten Brandgeruch, sahen auch bald den Rauch, der über die Bäume quoll, dünn und durchsichtig zuerst. Kurze Zeit darauf verschwammen die Umrisse der Stämme.
Dort, woher der Wind kam, brannte es. Noch stand der Fluchtweg offen. Aber die Jungen schritten dichter an das Feuer heran. Sie wollten den Brand sehen, bevor sie umkehrten.
Je weiter sie vorrückten, desto dichter wurde der Rauch. Der Wind zerwühlte die Nadelbüschel der Bäume. Darunter regte sich kein Lüftchen. In einer Senke standen die Schwaden wie Wasser in einem See. Die Freunde wateten hindurch. Sie waren froh, als sie eine höher gelegene Stelle erreichten. Zu ihren Füßen schwieg alles. Dieses Schweigen hatte mit der geheimnisvollen Stille, die sonst im Wald herrschte, nicht das geringste gemein. In weitem Umkreis war die Taiga von ihren Bewohnern verlassen. Blauer Rauch hing in der Luft, schwebte um die Bäume, die wie betäubt die Zweige hängen ließen, zum Umfallen schwach, teilnahmslos.
Die Jungen erwarteten, einen emporsprühenden Funkenregen zu sehen, eine lodernde Feuersbrunst, die boshafte Munterkeit um sich fressender Flammen, deren Anblick bange machte und fröhlich zugleich. Doch sie sahen nichts als Rauch. Anfangs waren sie enttäuscht. Dann wurde ihnen unheimlich. Der Rauch schien die Welt zu füllen. Er war überall, wohin sie sich wandten. Die weißlichen Schwaden und der still in den Bodensenken stehende Nebel nahmen kein Ende.
„Jetzt kriegen mich keine zehn Pferde weiter", erklärte Jurka.
Sie blieben stehen.
„Ich habe schon Ohrensausen von dem Qualm", jammerte Dimka.
Petka überlegte.
,,Na gut", sagte er dann, „dort vorn gibt's sicher auch nichts anderes zu sehen."
Es sollte ein ehrenvoller Rückzug werden, kam jedoch ganz anders, als die Jungen gedacht hatten. Kaum waren sie umgekehrt, begann die Nebelwand zu schwanken. Der Rauch quoll über die Niederungen hinaus, die Streifen und Schwaden gerieten in Bewegung. Zuerst vermuteten die Jungen, der Wind, der sich gelegt hatte, käme wieder auf und fegte erneut durch den Wald. Dann bemerkten sie, daß in allem, was geschah, ein gewisses System lag, als hätte jemand die Bewegungen aufeinander abgestimmt. Nun wurde klar: Der Rauch war zum Angriff übergegangen. Er drang von allen Seiten auf die Jungen ein.
Die hatten auf einmal große Eile und zogen es vor zu rennen, Schulter an Schulter, um einander nicht zu verlieren, denn was jetzt jeder von ihnen am meisten fürchtete, war, alleingelassen zu werden.
Als Dimka strauchelte, versuchte er sich zu fangen, schlug aber der Länge nach hin. Seine Freunde liefen weiter, zwei, drei Schritte, nicht mehr, doch Dimka kam es vor, als hätten sie sich, während er auf dem Boden lag, unendlich weit und auf alle Ewigkeit von ihm entfernt.